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Draußen vor der Tür - 1. Szene by Wolfgang Borchert Lyrics

Genre: misc | Year: 1947

(Abend. Blankenese. Man hört den Wind und das Wasser. Beckmann. Der Andere.)
BECKMANN: Wer ist da? Mitten in der Nacht. Hier am Wasser. Hallo! Wer ist denn da?
DER ANDERE: Ich.
BECKMANN: Und wer ist das: Ich?
DER ANDERE: Ich bin der Andere.
BECKMANN: Der Andere? Welcher Andere?
DER ANDERE: Der von gestern. Der von Früher. Der Andere von Immer. Der Antworter.
BECKMANN: Der von Früher?
DER ANDERE: Der auch. Und auch der von heute abend. Ich bin auch der Andere von morgen.
BECKMANN: Morgen. Morgen gibt es nicht. Morgen ist ohne dich. Hau ab. Du hast kein Gesicht.
DER ANDERE: Du wirst mich nicht los. Ich bin der Andere, der immer da ist: Morgen. An den Nachmittagen. Im Bett. Nachts.
BECKMANN: Hau ab. Ich hab kein Bett. Ich lieg hier im Dreck.
DER ANDERE: Ich bin auch der vom Dreck. Ich bin immer. Du wirst mich nicht los.
BECKMANN: Du hast kein Gesicht. Geh weg.
DER ANDERE: Du wirst mich nicht los. Ich bin der Andere, der immer da ist. Der lacht, wenn du weinst. Der antreibt, wenn du müde wirst. Ich bin der, der glaubt, der liebt! Ich bin der, der weitermarschiert, auch wenn gehumpelt wird. Und der Ja sagt, wenn du Nein sagst, der Jasager bin ich. . . .
BECKMANN: Geh weg. Ich will dich nicht. Ich sage Nein. Nein. Hörst du?
DER ANDERE: Ich höre. Deswegen bleibe ich ja hier. Wer bist du denn, du Neinsager?
BECKMANN: Ich heiße Beckmann.
DER ANDERE: Vornamen hast du wohl nicht, Neinsager?
BECKMANN: Nein. Seit gestern. Seit gestern heiße ich nur noch Beckmann. Einfach Beckmann. So wie der Tisch Tisch heißt.
DER ANDERE: Wer sagt Tisch zu dir?
BECKMANN: Meine Frau. Nein, die, die meine Frau war. Ich war nämlich drei Jahre lang weg. Im Krieg. Und gestern kam ich wieder nach Hause. Das war das Unglück. Drei Jahre sind viel, weißt du. Beckmann -- sagte meine Frau zu mir. Einfach nur Beckmann. Und dabei war man drei Jahre weg. Beckmann sagte sie, wie man zu einem Tisch Tisch dagt. Möbelstück Beckmann. Siehst du, deswegen habe ich keinen Vornamen mehr, verstehst du.
DER ANDERE: Und warum liegst du hier nun im Sand? Mitten in der Nacht. Hier am Wasser?
BECKMANN: Weil ich nicht nochkomme. Ich hab mir nämlich ein steifes Bein mitgebracht. So als Andenken.
DER ANDERE: Und deswegen liegst du hier abends am Wasser?
BECKMANN: Ich bin gefallen.
DER ANDERE: Ins Wasser?
BECKMANN: Nein, nein! Ich wollte mich reinfallen lassen. Mit Absicht. Ich konnte es nicht mehr aushalten. Dieses Gehumpel und Gehinke. Und dann die Sache mit der Frau, die meine Frau war. Und irgendwo darunter liegt mein Junge. Er war gerade ein Jahr alt, und ich hatte ihn noch nicht gesehen. Aber jetzt sehe ich ihn jede Nacht. Und da wollte ich mich fallen lassen, vom Ponton runter. Plumps. Aus. Vorbei.
DER ANDERE: Du hast geträumt. Du liegst doch hier auf dem Sand.
BECKMANN: Geträumt? Ja. Vor Hunger geträumt. Ich habe geträumt, sie hätte mich wieder ausgespuckt, die Elbe, diese alte . . . Das Leben ist schön, hat sie gemeint, diese verdammte alte -- ja, das hab ich vor Hunger geträumt. Was ist?
DER ANDERE: Kommt einer. Ein Mädchen. Da. Da hast du sie schon.
MÄDCHEN: Ist da jemand? Da hat doch eben jemand gesprochen. Hallo, ist da jemand
BECKMANN: Ja, hier liegt einer. Hier unten am Wasser.
MÄDCHEN: Aber warum denn? Stehen Sie doch auf. Ich dachte erst, da läge ein Toter, als ich den dunklen Haufen hier am Wasser sah. Hier liegen nämlich jetzt oft Tote abends am Wasser. Deswegen war ich so erschrocken. Aber Gott sei Dank, Sie sind ja noch lebendig. Aber Sie müssen ja durch und durch naß sein.
BECKMANN: Bin ich auch. Naß und kalt wie eine richtige Leiche.
MÄDCHEN: Dann stehen Sie doch eindlich auf. Oder haben Sie sich verletzt?
BECKMANN: Das auch. Mir haben sie die Kniescheibe gestohlen. In Rußland. Und nun muß ich mit einem steifen Bein durch das Leben hinken. Und ich denke immer, es geht rückwärts statt vorwärts. Von Hochkommen kann gar keine Rede sein.
MÄDCHEN: Dann kommen Sie doch. Ich helfe Ihnen. Sehen Sie, jetzt geht es sogar aufwärts. Sie sind ja naß und eiskalt. Wenn ich nicht vorbeigekommen wäre, wären Sie sicher bald ein Fisch geworden. Stumm sind Sie ja beinahe. Ich wohne hier gleich. Und ich habe trockenes Zeug im Hause. Oder sind Sie zu stolz, sich von mir trockenlegen zu lassen? SIe stummer nasser Fisch, Sie!
BECKMANN: Sie wollen mich mitnehmen?
MÄDCHEN: Ja, wenn Sie wollen. Aber nur weil Sie naß sind. Hoffentlich sind Sie sehr häßlich und bescheiden, damit ich es nicht bereuen muß, daß ich Sie mitnehme. Ich nehme Sie nur mit, weil Sie so naß und kalt sind, verstanden! Und weil --
BECKMANN: Weil? Was für ein Weil? Nein, nur weil ich naß und kalt bin. Sonst gibt es kein Weil.
MÄDCHEN: Doch. Gibt es doch. Weil Sie so eine hoffnungslose traurige Stimme haben. So grau und vollkommen trostlos. Ach, Unsinn ist das, wie? Kommen Sie, Sie stummer nasser Fisch.
BECKMANN: Halt! Sie laufen mir ja weg. Mein Bein kommt nicht mit. Langsam.
MÄDCHEN: Ach ja. Also: Dann langsam. Wie zwei uralte steinalte naßkalte Fische.
DER ANDERE: Weg sind sie. So sind sie, die Zweibeiner. Ganz sonderbare Leute sind das hier auf der Welt. Erst lassen sie sich ins Wasser fallen und sind ganz wild auf das Sterben versessen. Aber dann kommt zufällig so ein anderer Zweibeiner im Dunkeln vorbei, so einer mit Rock, mit einem Busen und langen Locken. Und dann ist das Leben plötzlich wieder ganz herrlich und süß. Dann will kein Mensch mehr sterben. Dann wollen sie nie tot sein. Wegen so ein paar Locken, wegen so einer weißen Haut und ein bißchen Frauengeruch. Dann stehen sie wieder vom Sterbebett auf und sind gesund wie zehntausend Hirsche im Februar. Dann werden selbst die halben Wasserleichen noch wieder lebendig, die es eigentlich doch überhaupt nicht mehr aushalten konnten auf dieser verdammten öden elenden Erdkugel. Die Wasserleichen werden wieder – alles wegen so ein paar Augen, wegen so einem bißchen weichen warmen Mitleid und so kleinen Händen und wegen einem schlanken Hals. Sogar die Wasserleichen, diese zweibeinigen, diese ganz sonderbaren Leute hier auf der Welt –