Vor dem Sturm. Zweiter Band. Zweites Kapitel. by Theodor Fontane Lyrics
Zweites Kapitel
Tante Amelie
Tante Amelie war die ältere Schwester Berndts von Vitzewitz. Um die Mitte des Jahrhunderts, also zu einer Zeit geboren, wo der Einfluß des friderizianischen Hofes sich bereits in den Adelskreisen geltend zu machen begann, empfing sie eine französische Erziehung und konnte lange Passagen der »Henriade« auswendig, ehe sie wußte, daß eine Messiade überhaupt existiere. Übrigens würde schon der Name ihres Verfassers sie an der Kenntnisnahme des Inhalts gehindert haben.
Sie war ein sehr schönes Kind, früh reif, der Schrecken aller nachbarlichen, in Wichtigkeit und Unbildung aufgebauschten Damen und erfüllte mit zwanzig Jahren die auf eine glänzende Partie gerichteten Hoffnungen beider Eltern: im Herbst 1770 wurde sie Gräfin Pudagla.
Graf Pudagla, ein Vierziger, hatte die Feldzüge mitgemacht, am Tage von Leuthen sich ausgezeichnet und stand bei Schluß des Krieges als Rittmeister im Dragonerregiment Anspach und Bayreuth. Eine glänzende militärische Laufbahn schien ihm gesichert. Bei der zweitfolgenden Revue aber sah er sich vom König, der einen groben Fehler wahrgenommen zu haben glaubte, mit harten Worten überhäuft, infolgedessen der
Graf den Abschied nahm. Er zog sich auf seine reichen, die halbe Insel Usedom einnehmenden Besitzungen zurück, besuchte während mehrerer Jahre die westeuropäischen Hauptstädte und gab bei seiner Rückkehr durch Annahme eines Prinz Heinrichschen Kammerherrntitels seiner Unzufriedenheit einen offenen Ausdruck. Er wollte zu den »Frondeurs« gezählt sein, die der Prinz bekanntermaßen um sich versammelte. Einige Wochen später vermählte er sich mit der schönen Amelie von Vitzewitz, woran sich nach einem kurzen Aufenthalt auf den pommerschen Gütern die Übersiedelung nach Rheinsberg schloß.
Die Vorteile, die der kleine Hof aus der Anwesenheit des Grafen zog, waren, soweit seine eigene Person in Betracht kam, gering. Er hatte, wie seine Gemahlin ihm gelegentlich vorwarf, »au fond du coeur« eine Abneigung gegen den Prinzen, nahm Anstoß an den Sitten, an dem Schmeichelkultus und der hochmütigen Kritik, die hier ihre Stätte hatten, und war jedesmal froh, wenn er nach Wochen kurzen Dienstes wieder auf seine heimatliche Insel zurückkehren, der paterna rura sich erfreuen und in die englischen Parlamentskämpfe sich vertiefen konnte. Denn er liebte England und sah in seinem Volk, seiner Freiheit, seiner Gesetzlichkeit das einzige Staatenvorbild, dem nachzueifern sei.
Aber so viel an Anregung und Huldigung der Graf versäumen mochte, die Gräfin glich diese Versäumnisse mehr als aus. Sie war in kürzester Frist die Seele der Gesellschaft und beherrschte wie den Hof, so auch die Spitze desselben, den Prinzen, eine Erscheinung, die nur diejenigen überraschen konnte, die den gefeierten Bruder des großen Königs einseitiger und äußerlicher nahmen, als er zu nehmen war. Denn während er die Frauen haßte, fühlte er sich doch ebenso zu ihnen hingezogen. Voll Abneigung gegen das Geschlecht als solches, sobald es allerhand ihm unbequeme Forderungen stellte, war er doch ästhetisch geschult und feinsinnig genug, um die eigentümlichen Vorzüge des weiblichen Geistes: Unmittelbarkeit, Witz und gute Laune, Schärfe und Treffendheit des Ausdruckes herauszufühlen. So vollzog sich das Widerspruchsvolle, daß an einem Hofe, der die Frauen als Frauen negierte, ebendiese Frauen doch herrschten, und zwar herrschten, ohne auch nur einen Augenblick auf ihre allerweiblichsten Eigenarten und Unarten verzichten zu müssen. Der Prinz hatte nur das Bedürfnis persönlichen Verschontbleibens; im übrigen tolerierte er alle den Sittenpunkt nicht ängstlich wägenden Lebens- und Umgangsformen, die ihm, weil einen unerschöpflichen Stoff für seine sarkastische Laune, ebendeshalb einen bevorzugten Gegenstand der Unterhaltung boten. Die Liebesintrige stand in Blüte; an unsere junge Gräfin aber knüpfte ihn neben manchem anderen auch die Wahrnehmung, daß sie, an Kühnheit der Anschauungen mit ihm wetteifernd, auf die Betätigung dieser Anschauungen verzichtete und keinen Augenblick dem Verdachte Nahrung gab, ihre Grundsätze nach ihrer Lebensbequemlichkeit gemodelt zu haben. Denn wie alle außerhalb des sittlichen Herkommens Stehende, barg auch der Prinz hinter dem Unglauben an einen reinen Wandel doch schließlich nur den im tiefsten ruhenden Respekt vor demselben. Unerschüttert in seinen Allgemeinanschauungen, sah er in der Gräfin »den Ausnahmefall, der ihm die Regel bestätigte«, und beglückwünschte sich, weit über landläufig-kleine Verhältnisse hinaus intimste Beziehungen zu einer Frau unterhalten zu dürfen, die, mit allen Vorzügen der weiblichen Natur ausgestattet, zugleich frei von allen Schwächen derselben war. Eine Spezialfreude gewährte ihm die Gräfin noch dadurch, daß sie für ihren Gemahl dieselbe heitere Kühle hatte wie für alle andern Mitglieder des Rheinsberger Hofes und die Frage nach der Fortdauer des Hauses Pudagla mit niegestörter Gleichgiltigkeit behandelte.
Einer ihrer hervorstechendsten Züge war die Offenheit. Sie wußte, daß sie mehr sagen durfte als andere, und sie bediente sich dieses Vorrechts. Eine Mischung von Pikanterie und Grazie, über die sie Verfügung hatte, gestattete ihr Gewagtheiten, die vielleicht keinem anderen Mitgliede des Hofes mit gleicher Bereitwilligkeit verziehen worden wären; das eigentliche Geheimnis ihrer andauernden Gunst aber war, daß sie die verschiedenen Gebiete der Unterhaltung auch verschieden zu behandeln und genau zu unterscheiden wußte, wo Gewagtheiten allenfalls noch am Platze waren und wo nicht. Wenn ihre Offenheit groß war, so war ihre Klugheit doch noch größer. Das philosophische Gebiet, die Kirche, die Moral bildeten einen weiten, nirgends durch Schnurleinen eingeengten Tummelplatz, während die Politik bereits einzelne, das militärische Gebiet aber, weil mit den Eitelkeiten des Prinzen zusammenhängend, eine ganze Anzahl von mit »Défendu« bezeichnete Partien hatte. Dieser Unterschiede war sich die Gräfin jederzeit bewußt, und während sie vielleicht eben noch in Beurteilung einer voltairisch aufgefaßten Jeanne d'Arc bis an die Grenze des Möglichen gegangen war, unterließ sie doch nicht, bei diskursiver Behandlung irgendeiner prinzlichen Schlachtengroßtat sofort den Ton zu wechseln und an die Stelle unerschrockenster Behauptungen die allerloyalsten Huldigungen treten zu lassen. Im Darbringen solcher Huldigungen – sei es von ungefähr im Gespräch oder sei es vorbereitet in großen Festlichkeiten – war sie unerschöpflich, und wenn sich der Prinz selbst nach ebendieser Seite hin eines wohlverdienten Rufes erfreute, so zeigte sie sich mindestens als seine gelehrige Schülerin. Ihre vollkommene Gleichgiltigkeit gegen militärische Schaustellungen und kriegerische Aktionen besaß sie Kraft genug, hinter einem erheuchelten und deshalb um so lebhafter sich gebärdenden Interesse zu verbergen. Sie wußte, daß wer den Zweck wollte, auch die Mittel wollen mußte, und so waren denn die Prinzenschlachten ihrem Gedächtnisse bald sicherer eingeprägt als die Feste des christlichen Kalenders. Nie verging der sechste Mai, der Jahrestag der Prager Affaire, ohne irgendeine solenne Bezugnahme darauf. Da gab es immer neue Überraschungen: gestickte Teppiche mit dem Hradschin und der Moldaubrücke, samt vier Grenadiermützen in den Ecken; Tableaux vivants, in denen Mars und Minerva, sich überholt fühlend, vor der höheren Rheinsberger Gottheit ihr Knie beugten; Dialoge, ganze Stücke, mit Griechen- und Römerhelden, mit Myrmidonen und Legionen, die sich dann schließlich immer als Prinz Heinrich und das die Prager Höhen erstürmende Regiment Itzenplitz entpuppten.
Sprach sich in diesem allen eine Kunst der Erfindung aus, so war die Kunst des Schweigens, des Unterdrückens und Verleugnens, die beständig geübt werden mußte, kaum geringer. »Schwerins mit der Fahne« durfte nie gedacht werden; ein Hinweis auf diesen großen Prager Rivalen würde nur zu den ernstesten Verstimmungen geführt haben, und der Prinz, von dem Wunsche erfüllt, einen solchen störenden Zwischenfall von vornherein ausgeschlossen zu sehen, hatte nicht Anstand genommen, »den auf allen Jahrmärkten besungenen Heldentod« einfach als eine »Bêtise« zu bezeichnen.
All diesen Eigenarten, auch wo sie sich bis zur Laune und Ungerechtigkeit steigerten, wußte sich die Gräfin zu bequemen, und ihrer Mühen Lohn war eine sechzehnjährige Herrschaft. Erst das Jahr 1786, ohne diese Herrschaft zu beseitigen, schuf doch einen Wandel der Verhältnisse überhaupt. Der Große König starb, und sein Hinscheiden ermangelte nicht, auch das Rheinsberger Leben empfindlich zu berühren. Der kleine Hof wurde wie auseinandergesprengt; alle freieren Elemente desselben, die großenteils mehr aus Opposition gegen den König als aus Liebe zum Prinzen sich um diesen geschart hatten, schlossen wieder ihren Frieden mit der Staatsautorität und waren froh, aus einem engen und aussichtslosen Kreis in den öffentlichen Dienst zurücktreten zu können. Unter diesen war auch Graf Pudagla. Er ging in demselben Herbst noch nach England, wozu ihn, neben seiner Vertrautheit mit Politik und Sprache, seine freundschaftlichen Beziehungen zu mehreren einflußreichen Familien befähigten. Als ihm diese auszeichnende Mission angetragen wurde, stellte er, besserer Repräsentation halber, an die Gräfin das Ansinnen, ihn zu begleiten. Sie lehnte jedoch ab, zum Teil aus wirklicher Anhänglichkeit an den Prinzen, mehr noch aus einer ihr angeborenen Abneigung gegen England.
Sie blieb also, blieb und huldigte, ohne ihres Bleibens und ihrer Huldigungen noch recht froh zu werden. Die glücklichen Tage lagen eben zurück. Alles war verändert, nicht nur der Hof, auch der Prinz. Seine Mißstimmungen wuchsen. Die staatlichen Interessen, so viele Jahre zurückgedrängt, traten wieder in den Vordergrund und beunruhigten ihn. Namentlich von dem Augenblick an, wo sich in Paris erkennbar die Gewitter zusammenzogen. Vor seinem großen, nun heimgegangenen Bruder, so wenig er ihn geliebt, so viel er ihn bekrittelt hatte, hatte er doch schließlich allem Besserwissen zum Trotz einen tiefgehenden, ganz ungeheuchelten Respekt empfunden; nichts davon flößten ihm die neuen Verhältnisse ein, noch weniger die Personen. Die Weiberherrschaft, weil alles Feinen und Geistigen entkleidet, war ihm ein Greuel, und unserer Gräfin huldvoll die Hand küssend, sagte er, als der Name der Madame Rietz in seiner Gegenwart genannt wurde: »Je la déteste de tout mon coeur; mes attentions, comme vous savez bien, appartiennent aux dames, mais jamais aux femmes.«
Dies waren Äußerungen besonderen Vertrauens; nichtsdestoweniger überkam die Gräfin das Gefühl, daß ihre Rheinsberger Tage gezählt seien. Sie sehnte sich nicht fort, aber sie bereitete sich in ihrem Herzen darauf vor. Und der Augenblick kam eher, als sie erwartet. Anno 1789 war der Graf auf kurzen Urlaub zurück. Er erkrankte, von einem Schlaganfall getroffen, im Vorzimmer des Königs; am anderen Tage war er tot. Die Nachricht davon erschütterte die Witwe mehr, als diejenigen, die ihre Ehe kannten, erwartet hatten; sie wurde sich jetzt bewußt, in Hochmut und Caprice nicht seine Liebe, aber den Wert seiner edelmännischen Gesinnung unterschätzt zu haben. Sein Testament, das aufs neue ein vollkommener Ausdruck dieser Gesinnung war, konnte die Vorstellung ihres Unrechts, so frei sie ihrer ganzen Natur nach von sentimentaler Reue blieb, nur steigern. Schloß Guse, das, aus freier Hand erstanden, nicht zu den Familiengütern zählte, war der Gräfin samt einem bedeutenden Barvermögen zugeschrieben worden. Sie beschloß, ihr Erbe anzutreten und die Verwaltung des Gutes selbst in die Hand zu nehmen. Nur noch den Winter über wollte sie am Rheinsberger Hofe verweilen; bei Ablauf desselben schied sie nicht ohne Bewegung von dem Prinzen, der ihr neben andern Souvenirs ein eigens gedichtetes Akrostichon überreicht hatte.
Am Osterheiligabend 1790 traf sie in Schloß Guse ein.
Das Schloß konnte zunächst nur den allerunwohnlichsten Eindruck machen. Die Administrationsjahre hatten es, einige wenige Räume abgerechnet, in eine Art Korn- und Futtermagazin umgewandelt; Raps und Weizen lagen aufgeschüttet in den Zimmern, während Heu- und Strohmassen die Korridore füllten. Am störendsten wirkte der ganze linke Flügel, aus dessen zerbröckelten Dielen überall die Pilze hervorwuchsen. Alte Bilder aus der Derfflingerzeit, stockfleckig und eingerissen, die meisten ohne Rahmen, hingen schief und vereinzelt an den Wänden und mehrten nur den Eindruck des Verfalls.
Die Gräfin indessen ließ sich durch den Anblick dieser Unbilden und Schädigungen, die das Schloß erfahren hatte, nicht beirren; im Gegenteil, die Aussicht auf Tätigkeit, die sich für sie eröffnete, hatte für ihre energische Natur einen Reiz. Sie bezog zwei kleine Zimmer im ersten Stock, die von der allgemeinen Zerstörung am wenigsten gelitten, zugleich auch eine gute Luft und einen freien Blick auf den schönen Park hatten. Von hier aus mit allen Handwerkern der nächsten Ortschaften, bald auch mit ihr bekannten hauptstädtischen Künstlern in Verbindung tretend, leitete sie den inneren Um- und Ausbau, der, soweit überhaupt beabsichtigt, in verhältnismäßig kurzer Zeit beendigt war. Am 31. Dezember 1790 zog sie, abergläubisch und tagewählerisch, wie sie war, in die neuen Räume ein, den Silvestertag jedes Jahres, aus allerhand heidnisch-philosophischen Gründen, in denen sich Tiefsinn und Unsinn paarte, zu den ausgesprochenen Glückstagen zählend.
Die neuen Räume lagen sämtlich auf der rechten Seite und bestanden aus einem Billard-, einem Spiegel- oder Blumen- und einem Empfangszimmer, woran sich dann, in den entsprechenden Seitenflügel übergehend, der Speisesaal und das Theater schlossen. Denn ohne Vorhang und Kulissen konnten sich Personen, die aus der Schule des Rheinsberger Prinzen kamen, eine behagliche Lebensmöglichkeit nicht wohl vorstellen. Die ganze linke Hälfte des Schlosses, von Lüftung der Räume und Beiseiteschaffung alles Ungehörigen abgesehen, hatte baulich keine Veränderungen erfahren, während die große zwischen beiden Hälften gelegene Flurhalle zum Stapelplatz für alle Derfflingerreminiszenzen gemacht worden war. Hier befanden sich zwei Falkonetts, zwei ausgestopfte Dragoner mit Glasaugen und die besterhaltenen jener Porträts und Schlachtenbilder, die bis dahin in den Räumen des Schlosses zerstreut gewesen waren. In Front der beiden Dragoner, ziemlich die Mitte der Flurhalle einnehmend, stand ein der Antike nachgebildeter Faun, dessen spöttisches Lachen die beste Kritik alles dessen war, was ihn umstand.
Am folgenden Tage, dem Neujahrstage 1791, gab die Gräfin zur Einweihung der neubezogenen Räume ihre erste Soiree. Der benachbarte Adel war geladen, und Tante Amelie machte die Honneurs ganz auf dem vornehmen Fuße, den ihr ihre Mittel, ihr Geist und die höfische Gewohnheit gestatteten. Alles war entzückt. Wirtin wie Gäste versprachen sich ein anregendes, vielleicht selbst ein freundschaftliches Beieinanderleben; Pläne wurden entworfen; die Zukunft erschien als eine lange Reihe von musikalisch-deklamatorischen Matineen, von L'hombre-Partien und Aufführungen französischer Komödien.
Aber es kam anders.
Schon vor Ablauf des Jahres mußten sich beide Parteien überzeugen, daß man nicht füreinander passe; die Gräfin war zu klug, der Nachbaradel nicht klug genug. Besonders die Frauen. Ihr Französisch (nur noch übertroffen durch ihr Deutsch), die geheuchelten literarischen Interessen, das beständige Sprechen über Dinge, die ihnen ebenso unbekannt wie gleichgiltig waren, mußten den feinen Sinn einer Dame verletzen, die zwischen dem persönlichen Umgang mit einem Prinzen und dem geistigen Verkehr mit hervorragenden Geistern ihr Leben geteilt hatte. Nur die Flüchtigkeit erster Begegnungen hatte über diese Verhältnisse täuschen können. Die Gräfin, als sie den Tatbestand überschaute, brach allen Umgang ab und beschränkte sich, ihre Lesepassion wieder aufnehmend, mehrere Jahre lang auf einen allerengsten Kreis, der sich aus ihrem Bruder Berndt auf Hohen-Vietz, aus dem auf Hohen-Ziesar lebenden Grafen Drosselstein und dem dreiundachtzigjährigen Seelower Superintendenten, der schon die Schlacht bei Mollwitz als Feldprediger mitgemacht hatte, zusammensetzte. Ihrem tiefen Bedürfnisse nach Moquerie und Klatsch, dem in diesem frauenlosen Kreise (Berndts Gemahlin schloß sich aus) nur sehr unvollkommen entsprochen wurde, suchte sie durch ein briefliches Geplauder mit dem Prinzen zu Hilfe zu kommen, der, ein Feinschmecker auf dem Gebiete der Chronique scandaleuse, nicht müde wurde, sie zur Fortsetzung einer beiden Teilen gleich gewinnbringenden Korrespondenz zu ermutigen.
Das ging bis 1802, wo der Prinz starb. Erst nach dieser Zeit empfand sie wieder den Hang, aus ihrer Einsamkeit, die ganz und gar gegen ihre Natur und ihr durch die Verhältnisse nur aufgezwungen war, herauszutreten. Und so geschah es. Die Frauen, gegen die sie, mit den Jahren sich steigernd, eine fast zur Manie gewordene Abneigung hegte, blieben nach wie vor ausgeschlossen; aber den kleinen Männerkreis, der bis dahin ihren Umgang gebildet hatte, suchte sie zu erweitern. Der Wechsel im Besitz auf mehreren der ihr benachbarten Güter bot dazu eine bequeme Gelegenheit, und jener Gesellschaftszirkel begann sich zu bilden, der schon ein Jahrzehnt vor Beginn unserer Erzählung zu allerhand kritischen Bemerkungen von seiten ihres Bruders Berndt, zugleich aber auch zu dem Verteidigungskonklusum der Gräfin: »Tous les genres sont bons, hors l'ennuyeux« geführt hatte.
»Gut«, hatte Berndt geantwortet, »aber dann erfülle auch die Bedingung. Du wirst doch nicht den Kammerherrn von Medewitz als ›hors l'ennuyeux‹ bezeichnen wollen?«
»Doch«, hatte die Schwester repliziert und eine Unterredung abgebrochen, in der beide Geschwister, jeder von seinem Standpunkte aus, im Rechte waren. Die Gräfin, selbstisch in all ihrem Tun, verfuhr nicht nach allgemeinen Gesichtspunkten, sondern nach allerpersönlichstem Geschmack. Ihr Umgangskreis, den Berndt ziemlich spitz als »allerlei Freunde« bezeichnete, war nicht darnach gewählt worden, ob er anderen, sondern lediglich darnach, ob er ihr gefiele. Was sie am meisten verachtete, waren herkömmliche Anschauungen; ihre Laune war souverän. Wer ihr ein Lächeln abnötigte, ihr Gelegenheit zu einem Sarkasmus bot, war ihr ebenso unterhaltlich als derjenige, der ihr eine Fülle von Esprit, einen Schatz von Anekdoten entgegenbrachte. Nur die unausgesprochenen Menschen waren ihr interesselos, während alles Aparte, gleichviel, ob es nach der Beschränktheits- oder Klugheitsseite hin lag, einen prickelnden Reiz für sie hatte.
Sehen wir im folgenden Kapitel des näheren, welcher Art diese »allerlei Freunde« von Schloß Guse waren.
Tante Amelie
Tante Amelie war die ältere Schwester Berndts von Vitzewitz. Um die Mitte des Jahrhunderts, also zu einer Zeit geboren, wo der Einfluß des friderizianischen Hofes sich bereits in den Adelskreisen geltend zu machen begann, empfing sie eine französische Erziehung und konnte lange Passagen der »Henriade« auswendig, ehe sie wußte, daß eine Messiade überhaupt existiere. Übrigens würde schon der Name ihres Verfassers sie an der Kenntnisnahme des Inhalts gehindert haben.
Sie war ein sehr schönes Kind, früh reif, der Schrecken aller nachbarlichen, in Wichtigkeit und Unbildung aufgebauschten Damen und erfüllte mit zwanzig Jahren die auf eine glänzende Partie gerichteten Hoffnungen beider Eltern: im Herbst 1770 wurde sie Gräfin Pudagla.
Graf Pudagla, ein Vierziger, hatte die Feldzüge mitgemacht, am Tage von Leuthen sich ausgezeichnet und stand bei Schluß des Krieges als Rittmeister im Dragonerregiment Anspach und Bayreuth. Eine glänzende militärische Laufbahn schien ihm gesichert. Bei der zweitfolgenden Revue aber sah er sich vom König, der einen groben Fehler wahrgenommen zu haben glaubte, mit harten Worten überhäuft, infolgedessen der
Graf den Abschied nahm. Er zog sich auf seine reichen, die halbe Insel Usedom einnehmenden Besitzungen zurück, besuchte während mehrerer Jahre die westeuropäischen Hauptstädte und gab bei seiner Rückkehr durch Annahme eines Prinz Heinrichschen Kammerherrntitels seiner Unzufriedenheit einen offenen Ausdruck. Er wollte zu den »Frondeurs« gezählt sein, die der Prinz bekanntermaßen um sich versammelte. Einige Wochen später vermählte er sich mit der schönen Amelie von Vitzewitz, woran sich nach einem kurzen Aufenthalt auf den pommerschen Gütern die Übersiedelung nach Rheinsberg schloß.
Die Vorteile, die der kleine Hof aus der Anwesenheit des Grafen zog, waren, soweit seine eigene Person in Betracht kam, gering. Er hatte, wie seine Gemahlin ihm gelegentlich vorwarf, »au fond du coeur« eine Abneigung gegen den Prinzen, nahm Anstoß an den Sitten, an dem Schmeichelkultus und der hochmütigen Kritik, die hier ihre Stätte hatten, und war jedesmal froh, wenn er nach Wochen kurzen Dienstes wieder auf seine heimatliche Insel zurückkehren, der paterna rura sich erfreuen und in die englischen Parlamentskämpfe sich vertiefen konnte. Denn er liebte England und sah in seinem Volk, seiner Freiheit, seiner Gesetzlichkeit das einzige Staatenvorbild, dem nachzueifern sei.
Aber so viel an Anregung und Huldigung der Graf versäumen mochte, die Gräfin glich diese Versäumnisse mehr als aus. Sie war in kürzester Frist die Seele der Gesellschaft und beherrschte wie den Hof, so auch die Spitze desselben, den Prinzen, eine Erscheinung, die nur diejenigen überraschen konnte, die den gefeierten Bruder des großen Königs einseitiger und äußerlicher nahmen, als er zu nehmen war. Denn während er die Frauen haßte, fühlte er sich doch ebenso zu ihnen hingezogen. Voll Abneigung gegen das Geschlecht als solches, sobald es allerhand ihm unbequeme Forderungen stellte, war er doch ästhetisch geschult und feinsinnig genug, um die eigentümlichen Vorzüge des weiblichen Geistes: Unmittelbarkeit, Witz und gute Laune, Schärfe und Treffendheit des Ausdruckes herauszufühlen. So vollzog sich das Widerspruchsvolle, daß an einem Hofe, der die Frauen als Frauen negierte, ebendiese Frauen doch herrschten, und zwar herrschten, ohne auch nur einen Augenblick auf ihre allerweiblichsten Eigenarten und Unarten verzichten zu müssen. Der Prinz hatte nur das Bedürfnis persönlichen Verschontbleibens; im übrigen tolerierte er alle den Sittenpunkt nicht ängstlich wägenden Lebens- und Umgangsformen, die ihm, weil einen unerschöpflichen Stoff für seine sarkastische Laune, ebendeshalb einen bevorzugten Gegenstand der Unterhaltung boten. Die Liebesintrige stand in Blüte; an unsere junge Gräfin aber knüpfte ihn neben manchem anderen auch die Wahrnehmung, daß sie, an Kühnheit der Anschauungen mit ihm wetteifernd, auf die Betätigung dieser Anschauungen verzichtete und keinen Augenblick dem Verdachte Nahrung gab, ihre Grundsätze nach ihrer Lebensbequemlichkeit gemodelt zu haben. Denn wie alle außerhalb des sittlichen Herkommens Stehende, barg auch der Prinz hinter dem Unglauben an einen reinen Wandel doch schließlich nur den im tiefsten ruhenden Respekt vor demselben. Unerschüttert in seinen Allgemeinanschauungen, sah er in der Gräfin »den Ausnahmefall, der ihm die Regel bestätigte«, und beglückwünschte sich, weit über landläufig-kleine Verhältnisse hinaus intimste Beziehungen zu einer Frau unterhalten zu dürfen, die, mit allen Vorzügen der weiblichen Natur ausgestattet, zugleich frei von allen Schwächen derselben war. Eine Spezialfreude gewährte ihm die Gräfin noch dadurch, daß sie für ihren Gemahl dieselbe heitere Kühle hatte wie für alle andern Mitglieder des Rheinsberger Hofes und die Frage nach der Fortdauer des Hauses Pudagla mit niegestörter Gleichgiltigkeit behandelte.
Einer ihrer hervorstechendsten Züge war die Offenheit. Sie wußte, daß sie mehr sagen durfte als andere, und sie bediente sich dieses Vorrechts. Eine Mischung von Pikanterie und Grazie, über die sie Verfügung hatte, gestattete ihr Gewagtheiten, die vielleicht keinem anderen Mitgliede des Hofes mit gleicher Bereitwilligkeit verziehen worden wären; das eigentliche Geheimnis ihrer andauernden Gunst aber war, daß sie die verschiedenen Gebiete der Unterhaltung auch verschieden zu behandeln und genau zu unterscheiden wußte, wo Gewagtheiten allenfalls noch am Platze waren und wo nicht. Wenn ihre Offenheit groß war, so war ihre Klugheit doch noch größer. Das philosophische Gebiet, die Kirche, die Moral bildeten einen weiten, nirgends durch Schnurleinen eingeengten Tummelplatz, während die Politik bereits einzelne, das militärische Gebiet aber, weil mit den Eitelkeiten des Prinzen zusammenhängend, eine ganze Anzahl von mit »Défendu« bezeichnete Partien hatte. Dieser Unterschiede war sich die Gräfin jederzeit bewußt, und während sie vielleicht eben noch in Beurteilung einer voltairisch aufgefaßten Jeanne d'Arc bis an die Grenze des Möglichen gegangen war, unterließ sie doch nicht, bei diskursiver Behandlung irgendeiner prinzlichen Schlachtengroßtat sofort den Ton zu wechseln und an die Stelle unerschrockenster Behauptungen die allerloyalsten Huldigungen treten zu lassen. Im Darbringen solcher Huldigungen – sei es von ungefähr im Gespräch oder sei es vorbereitet in großen Festlichkeiten – war sie unerschöpflich, und wenn sich der Prinz selbst nach ebendieser Seite hin eines wohlverdienten Rufes erfreute, so zeigte sie sich mindestens als seine gelehrige Schülerin. Ihre vollkommene Gleichgiltigkeit gegen militärische Schaustellungen und kriegerische Aktionen besaß sie Kraft genug, hinter einem erheuchelten und deshalb um so lebhafter sich gebärdenden Interesse zu verbergen. Sie wußte, daß wer den Zweck wollte, auch die Mittel wollen mußte, und so waren denn die Prinzenschlachten ihrem Gedächtnisse bald sicherer eingeprägt als die Feste des christlichen Kalenders. Nie verging der sechste Mai, der Jahrestag der Prager Affaire, ohne irgendeine solenne Bezugnahme darauf. Da gab es immer neue Überraschungen: gestickte Teppiche mit dem Hradschin und der Moldaubrücke, samt vier Grenadiermützen in den Ecken; Tableaux vivants, in denen Mars und Minerva, sich überholt fühlend, vor der höheren Rheinsberger Gottheit ihr Knie beugten; Dialoge, ganze Stücke, mit Griechen- und Römerhelden, mit Myrmidonen und Legionen, die sich dann schließlich immer als Prinz Heinrich und das die Prager Höhen erstürmende Regiment Itzenplitz entpuppten.
Sprach sich in diesem allen eine Kunst der Erfindung aus, so war die Kunst des Schweigens, des Unterdrückens und Verleugnens, die beständig geübt werden mußte, kaum geringer. »Schwerins mit der Fahne« durfte nie gedacht werden; ein Hinweis auf diesen großen Prager Rivalen würde nur zu den ernstesten Verstimmungen geführt haben, und der Prinz, von dem Wunsche erfüllt, einen solchen störenden Zwischenfall von vornherein ausgeschlossen zu sehen, hatte nicht Anstand genommen, »den auf allen Jahrmärkten besungenen Heldentod« einfach als eine »Bêtise« zu bezeichnen.
All diesen Eigenarten, auch wo sie sich bis zur Laune und Ungerechtigkeit steigerten, wußte sich die Gräfin zu bequemen, und ihrer Mühen Lohn war eine sechzehnjährige Herrschaft. Erst das Jahr 1786, ohne diese Herrschaft zu beseitigen, schuf doch einen Wandel der Verhältnisse überhaupt. Der Große König starb, und sein Hinscheiden ermangelte nicht, auch das Rheinsberger Leben empfindlich zu berühren. Der kleine Hof wurde wie auseinandergesprengt; alle freieren Elemente desselben, die großenteils mehr aus Opposition gegen den König als aus Liebe zum Prinzen sich um diesen geschart hatten, schlossen wieder ihren Frieden mit der Staatsautorität und waren froh, aus einem engen und aussichtslosen Kreis in den öffentlichen Dienst zurücktreten zu können. Unter diesen war auch Graf Pudagla. Er ging in demselben Herbst noch nach England, wozu ihn, neben seiner Vertrautheit mit Politik und Sprache, seine freundschaftlichen Beziehungen zu mehreren einflußreichen Familien befähigten. Als ihm diese auszeichnende Mission angetragen wurde, stellte er, besserer Repräsentation halber, an die Gräfin das Ansinnen, ihn zu begleiten. Sie lehnte jedoch ab, zum Teil aus wirklicher Anhänglichkeit an den Prinzen, mehr noch aus einer ihr angeborenen Abneigung gegen England.
Sie blieb also, blieb und huldigte, ohne ihres Bleibens und ihrer Huldigungen noch recht froh zu werden. Die glücklichen Tage lagen eben zurück. Alles war verändert, nicht nur der Hof, auch der Prinz. Seine Mißstimmungen wuchsen. Die staatlichen Interessen, so viele Jahre zurückgedrängt, traten wieder in den Vordergrund und beunruhigten ihn. Namentlich von dem Augenblick an, wo sich in Paris erkennbar die Gewitter zusammenzogen. Vor seinem großen, nun heimgegangenen Bruder, so wenig er ihn geliebt, so viel er ihn bekrittelt hatte, hatte er doch schließlich allem Besserwissen zum Trotz einen tiefgehenden, ganz ungeheuchelten Respekt empfunden; nichts davon flößten ihm die neuen Verhältnisse ein, noch weniger die Personen. Die Weiberherrschaft, weil alles Feinen und Geistigen entkleidet, war ihm ein Greuel, und unserer Gräfin huldvoll die Hand küssend, sagte er, als der Name der Madame Rietz in seiner Gegenwart genannt wurde: »Je la déteste de tout mon coeur; mes attentions, comme vous savez bien, appartiennent aux dames, mais jamais aux femmes.«
Dies waren Äußerungen besonderen Vertrauens; nichtsdestoweniger überkam die Gräfin das Gefühl, daß ihre Rheinsberger Tage gezählt seien. Sie sehnte sich nicht fort, aber sie bereitete sich in ihrem Herzen darauf vor. Und der Augenblick kam eher, als sie erwartet. Anno 1789 war der Graf auf kurzen Urlaub zurück. Er erkrankte, von einem Schlaganfall getroffen, im Vorzimmer des Königs; am anderen Tage war er tot. Die Nachricht davon erschütterte die Witwe mehr, als diejenigen, die ihre Ehe kannten, erwartet hatten; sie wurde sich jetzt bewußt, in Hochmut und Caprice nicht seine Liebe, aber den Wert seiner edelmännischen Gesinnung unterschätzt zu haben. Sein Testament, das aufs neue ein vollkommener Ausdruck dieser Gesinnung war, konnte die Vorstellung ihres Unrechts, so frei sie ihrer ganzen Natur nach von sentimentaler Reue blieb, nur steigern. Schloß Guse, das, aus freier Hand erstanden, nicht zu den Familiengütern zählte, war der Gräfin samt einem bedeutenden Barvermögen zugeschrieben worden. Sie beschloß, ihr Erbe anzutreten und die Verwaltung des Gutes selbst in die Hand zu nehmen. Nur noch den Winter über wollte sie am Rheinsberger Hofe verweilen; bei Ablauf desselben schied sie nicht ohne Bewegung von dem Prinzen, der ihr neben andern Souvenirs ein eigens gedichtetes Akrostichon überreicht hatte.
Am Osterheiligabend 1790 traf sie in Schloß Guse ein.
Das Schloß konnte zunächst nur den allerunwohnlichsten Eindruck machen. Die Administrationsjahre hatten es, einige wenige Räume abgerechnet, in eine Art Korn- und Futtermagazin umgewandelt; Raps und Weizen lagen aufgeschüttet in den Zimmern, während Heu- und Strohmassen die Korridore füllten. Am störendsten wirkte der ganze linke Flügel, aus dessen zerbröckelten Dielen überall die Pilze hervorwuchsen. Alte Bilder aus der Derfflingerzeit, stockfleckig und eingerissen, die meisten ohne Rahmen, hingen schief und vereinzelt an den Wänden und mehrten nur den Eindruck des Verfalls.
Die Gräfin indessen ließ sich durch den Anblick dieser Unbilden und Schädigungen, die das Schloß erfahren hatte, nicht beirren; im Gegenteil, die Aussicht auf Tätigkeit, die sich für sie eröffnete, hatte für ihre energische Natur einen Reiz. Sie bezog zwei kleine Zimmer im ersten Stock, die von der allgemeinen Zerstörung am wenigsten gelitten, zugleich auch eine gute Luft und einen freien Blick auf den schönen Park hatten. Von hier aus mit allen Handwerkern der nächsten Ortschaften, bald auch mit ihr bekannten hauptstädtischen Künstlern in Verbindung tretend, leitete sie den inneren Um- und Ausbau, der, soweit überhaupt beabsichtigt, in verhältnismäßig kurzer Zeit beendigt war. Am 31. Dezember 1790 zog sie, abergläubisch und tagewählerisch, wie sie war, in die neuen Räume ein, den Silvestertag jedes Jahres, aus allerhand heidnisch-philosophischen Gründen, in denen sich Tiefsinn und Unsinn paarte, zu den ausgesprochenen Glückstagen zählend.
Die neuen Räume lagen sämtlich auf der rechten Seite und bestanden aus einem Billard-, einem Spiegel- oder Blumen- und einem Empfangszimmer, woran sich dann, in den entsprechenden Seitenflügel übergehend, der Speisesaal und das Theater schlossen. Denn ohne Vorhang und Kulissen konnten sich Personen, die aus der Schule des Rheinsberger Prinzen kamen, eine behagliche Lebensmöglichkeit nicht wohl vorstellen. Die ganze linke Hälfte des Schlosses, von Lüftung der Räume und Beiseiteschaffung alles Ungehörigen abgesehen, hatte baulich keine Veränderungen erfahren, während die große zwischen beiden Hälften gelegene Flurhalle zum Stapelplatz für alle Derfflingerreminiszenzen gemacht worden war. Hier befanden sich zwei Falkonetts, zwei ausgestopfte Dragoner mit Glasaugen und die besterhaltenen jener Porträts und Schlachtenbilder, die bis dahin in den Räumen des Schlosses zerstreut gewesen waren. In Front der beiden Dragoner, ziemlich die Mitte der Flurhalle einnehmend, stand ein der Antike nachgebildeter Faun, dessen spöttisches Lachen die beste Kritik alles dessen war, was ihn umstand.
Am folgenden Tage, dem Neujahrstage 1791, gab die Gräfin zur Einweihung der neubezogenen Räume ihre erste Soiree. Der benachbarte Adel war geladen, und Tante Amelie machte die Honneurs ganz auf dem vornehmen Fuße, den ihr ihre Mittel, ihr Geist und die höfische Gewohnheit gestatteten. Alles war entzückt. Wirtin wie Gäste versprachen sich ein anregendes, vielleicht selbst ein freundschaftliches Beieinanderleben; Pläne wurden entworfen; die Zukunft erschien als eine lange Reihe von musikalisch-deklamatorischen Matineen, von L'hombre-Partien und Aufführungen französischer Komödien.
Aber es kam anders.
Schon vor Ablauf des Jahres mußten sich beide Parteien überzeugen, daß man nicht füreinander passe; die Gräfin war zu klug, der Nachbaradel nicht klug genug. Besonders die Frauen. Ihr Französisch (nur noch übertroffen durch ihr Deutsch), die geheuchelten literarischen Interessen, das beständige Sprechen über Dinge, die ihnen ebenso unbekannt wie gleichgiltig waren, mußten den feinen Sinn einer Dame verletzen, die zwischen dem persönlichen Umgang mit einem Prinzen und dem geistigen Verkehr mit hervorragenden Geistern ihr Leben geteilt hatte. Nur die Flüchtigkeit erster Begegnungen hatte über diese Verhältnisse täuschen können. Die Gräfin, als sie den Tatbestand überschaute, brach allen Umgang ab und beschränkte sich, ihre Lesepassion wieder aufnehmend, mehrere Jahre lang auf einen allerengsten Kreis, der sich aus ihrem Bruder Berndt auf Hohen-Vietz, aus dem auf Hohen-Ziesar lebenden Grafen Drosselstein und dem dreiundachtzigjährigen Seelower Superintendenten, der schon die Schlacht bei Mollwitz als Feldprediger mitgemacht hatte, zusammensetzte. Ihrem tiefen Bedürfnisse nach Moquerie und Klatsch, dem in diesem frauenlosen Kreise (Berndts Gemahlin schloß sich aus) nur sehr unvollkommen entsprochen wurde, suchte sie durch ein briefliches Geplauder mit dem Prinzen zu Hilfe zu kommen, der, ein Feinschmecker auf dem Gebiete der Chronique scandaleuse, nicht müde wurde, sie zur Fortsetzung einer beiden Teilen gleich gewinnbringenden Korrespondenz zu ermutigen.
Das ging bis 1802, wo der Prinz starb. Erst nach dieser Zeit empfand sie wieder den Hang, aus ihrer Einsamkeit, die ganz und gar gegen ihre Natur und ihr durch die Verhältnisse nur aufgezwungen war, herauszutreten. Und so geschah es. Die Frauen, gegen die sie, mit den Jahren sich steigernd, eine fast zur Manie gewordene Abneigung hegte, blieben nach wie vor ausgeschlossen; aber den kleinen Männerkreis, der bis dahin ihren Umgang gebildet hatte, suchte sie zu erweitern. Der Wechsel im Besitz auf mehreren der ihr benachbarten Güter bot dazu eine bequeme Gelegenheit, und jener Gesellschaftszirkel begann sich zu bilden, der schon ein Jahrzehnt vor Beginn unserer Erzählung zu allerhand kritischen Bemerkungen von seiten ihres Bruders Berndt, zugleich aber auch zu dem Verteidigungskonklusum der Gräfin: »Tous les genres sont bons, hors l'ennuyeux« geführt hatte.
»Gut«, hatte Berndt geantwortet, »aber dann erfülle auch die Bedingung. Du wirst doch nicht den Kammerherrn von Medewitz als ›hors l'ennuyeux‹ bezeichnen wollen?«
»Doch«, hatte die Schwester repliziert und eine Unterredung abgebrochen, in der beide Geschwister, jeder von seinem Standpunkte aus, im Rechte waren. Die Gräfin, selbstisch in all ihrem Tun, verfuhr nicht nach allgemeinen Gesichtspunkten, sondern nach allerpersönlichstem Geschmack. Ihr Umgangskreis, den Berndt ziemlich spitz als »allerlei Freunde« bezeichnete, war nicht darnach gewählt worden, ob er anderen, sondern lediglich darnach, ob er ihr gefiele. Was sie am meisten verachtete, waren herkömmliche Anschauungen; ihre Laune war souverän. Wer ihr ein Lächeln abnötigte, ihr Gelegenheit zu einem Sarkasmus bot, war ihr ebenso unterhaltlich als derjenige, der ihr eine Fülle von Esprit, einen Schatz von Anekdoten entgegenbrachte. Nur die unausgesprochenen Menschen waren ihr interesselos, während alles Aparte, gleichviel, ob es nach der Beschränktheits- oder Klugheitsseite hin lag, einen prickelnden Reiz für sie hatte.
Sehen wir im folgenden Kapitel des näheren, welcher Art diese »allerlei Freunde« von Schloß Guse waren.