Vor dem Sturm. Zweiter Band. Sechzehntes Kapitel. by Theodor Fontane Lyrics
Sechzehntes Kapitel
Von Kajarnak, dem Grönländer
Um zwei Uhr waren unsere Hohen-Vietzer wieder in ihrem Dorf, und eine halbe Stunde später wußte jeder bis auf die letzten Lose hinaus, daß die Strolche gefunden und auf dem Wege nach Frankfurt seien. Im Kruge, wo sich bald einige Bauern, auch Kallies und Kümmeritz, versammelten, entsann man sich Muschwitzens sehr wohl, der immer ein Tagedieb und Taugenichts gewesen sei, und erging sich in Vermutungen, woher er den französischen Soldatenrock genommen haben könne, Vermutungen, die mit Totschlag begannen und über qualifizierten Diebstahl hin einfach bei Tausch oder Kauf endigten. Dies letztere war denn auch das wahrscheinlichste. In Küstrin, wo der Typhus jeden Tag die Reihen der französischen, zum Teil aus Hessen und Westfalen bestehenden Garnison lichtete, war zu solchen »Geschäften unter der Hand« die reichlichste Gelegenheit gegeben. Von Rosentreter wußte niemand. Das Lob des Hütejungen war auf aller Lippen.
Auch im Herrenhause riß das Erzählen gar nicht ab. Kathinka und Tante Schorlemmer wollten alles bis auf die kleinsten Züge wissen, und als es unten im Wohnzimmer nichts mehr zu berichten gab, wurde oben in Renatens Krankenzimmer das Berichterstatten fortgesetzt. Lewin saß eine Stunde lang an ihrem Bett und ließ der Reihenfolge nach erst das Absuchen des Wäldchens, dann den Überfall und den Transport der Gefangenen an ihrem Auge vorüberziehen. Nichts wurde vergessen; namentlich hob er aus seinem Gespräche mit dem jungen Scharwenka hervor, daß Maline unrecht habe, pries Hanne Boguns Umsicht und schilderte schließlich den Eindruck, den die auf dem Rohrwerder mitgefangene Frau auf ihn gemacht habe.
So kam die Tischstunde heran. Der alte Vitzewitz war in bester Laune, und so unbequem es ihm sein mochte, mit seiner Hypothese von den »Marodeurs« und »Deserteurs« eine arge Niederlage erlitten zu haben, so gewann er es doch über sich, was sonst nicht seine Art war, über sich selbst und seinen Rechnungsfehler zu scherzen. Wußte er doch, daß er schließlich recht behalten würde. Alles war nur Frage der Zeit.
Gleich nach Tisch sollte zu Graf Drosselstein nach Hohen-Ziesar hinübergefahren werden; Tubal und Kathinka schuldeten ihm ohnehin noch ihren Besuch, der, wenn er überhaupt noch gemacht werden sollte, nicht hinausgeschoben werden konnte. Denn am andern Tage schon sollte von Schloß Guse aus die Rückkehr beider Geschwister nach Berlin angetreten werden. Krist mit den Ponys hielt schon vor der Treppe, als die Tafel aufgehoben wurde; wenige Minuten später bog der Wagen von der Auffahrt her in die Dorfstraße ein. Kathinka, einer ihrer Passionen folgend, hatte die Leinen genommen und fuhr. Als sie an Miekleys Mühle vorüberkamen, begegnete ihnen Doktor Leist von Lebus, der sich getreulich einstellte, um nach seiner Kranken zu sehen. Nur kurze Grüße wurden gewechselt.
Alte-Doktor Leist, der seit zwanzig Jahren im Hohen-Vietzer Herrenhause so gut Bescheid wußte wie in seinem eigenen, stieg, nachdem er ein paar Worte mit Jeetze gewechselt und von dem großen Ereignis des Tages gehört hatte, treppan und trat bei Renaten ein.
Nur Maline war bei ihr. Das Schlafzimmer, jetzt auch Krankenzimmer, lag auf der der Gerichtsstube entgegengesetzten Seite des Hauses und war nur durch eine Giebelwand von dem mehrgenannten alten Querbau getrennt, der ehedem als Bankettsaal, dann als Kapelle gedient und nun längst schon seine früheren Bestimmungen mit der bescheidenen einer großen Obst- und Rumpelkammer vertauscht hatte. Am Ende des Korridors befand sich eine schmale Tür, die mit Hilfe einer hochstufigen Treppe die Verbindung mit diesem alten Querbau unterhielt. Doktor Leist trat an das Bett der Kranken, fühlte den Puls und sagte dann, während er eine fieberstillende Arznei auswickelte:
»Hier bring' ich etwas. Der alte Doktor Leist ist wie der Weihnachtsmann; er bringt immer etwas mit.«
»Nur der Weihnachtsmann bringt Süßes, und Doktor Leist bringt Bitteres.«
»Nicht doch, nicht doch, Renatchen. Da sollten Sie den alten Leist doch besser kennen. Der weiß, was sich schickt, und kennt seine deutschen Sprichwörter. Gleich und gleich gesellt sich gern. Und für so liebe kleine Fräuleins ist das Bittere gar nicht da.«
»Also sauer?«
»Sauer und süß; eine Doppellimonade.«
»Das ist recht. Ich fürchte mich vor jedem Löffel Medizin. Aber eine Doppellimonade, das mag gehen. Und wie ist es mit der Diät, Doktorchen?«
»Nicht zu streng. Sagen wir: ein Biskuit und etwas gestowtes Obst.«
»Nicht auch frisches?«
»Allenfalls auch frisches. Aber mit Auswahl. Etwa einen mürben Gravensteiner oder eine Kalville.«
»Danke, danke. Die lieb' ich gerade sehr. Und darf ich mir auch etwas vorplaudern lassen? Von Maline?«
»Gut, gut.«
»Oder von Tante Schorlemmer?«
»Noch besser. Sie wird, denk' ich, mehr kalmieren als irritieren. Und das ist genau, was wir brauchen.«
Damit empfahl sich Doktor Leist und versprach, am andern Tage wiederzukommen.
Der Alte war kaum fort, als Renate Malinen heranwinkte.
»Nun nimm eine Fußbank und setze dich zu mir; hier dicht an mein Bett. Wir haben ja des Doktors Erlaubnis. Und nun gib mir deine Hand. Ach, wie schön kühl du bist. Wenn ich nur eine ruhige Nacht hätte! Aber ich habe immer Bilder vor den Augen.«
»Das ist das Fieber.«
»Ja, das Fieber. Und das quält mich, daß ich den Anblick der armen Frau nicht loswerden kann.«
»Welcher Frau?«
»Die sie heute mittag auf dem Rohrwerder mit aufgespürt haben. Lewin sagte mir, daß kein rohes Wort, nicht einmal eine Klage über ihre Lippen gekommen sei.«
»Aber, Fräulein, es ist ja eine Diebin. Und keiner weiß, wem sie zugehört. Krist sagte mir: ›Sie hat zwei Männer oder keinen.‹ Und das ist doch schlimm, das eine wie das andere.«
»Ich habe doch Mitleid mit ihr, und so recht eigentlich schlecht kann sie nicht sein; denn sieh, sie hat nicht an sich gedacht, sondern erst an ihr Kind und hat es in einen kleinen Schlittenkasten gepackt und es mit sich genommen. Und nun seh' ich immer die lange Frankfurter Pappelallee vor mir, die kein Ende nimmt und weit, weit am Horizonte zu einem Punkte zusammenläuft. Und zwischen den Pappeln geht die Frau und zieht den Schlittenkasten, in dem das Kind sitzt, und wenn sie aufwärts, abwärts an den Punkt kommt, wo die Pappeln ein Ende zu nehmen schienen, dann tut sich eine neue Allee auf, die noch länger ist und wieder in einem Punkte zusammenläuft. Und die Frau wird immer matter und müder. Es peinigt mich. Ich wollte, daß ich das Bild loswerden könnte.«
»Krull und Reetzke sind ja gute Leute und werden ihr nicht mehr auflegen, als sie tragen kann.«
»Es sind Bauern, und Bauern sind hart und taub. Ich wollte, der junge Scharwenka hätte den Transport übernommen. Der ist schon anders und läßt mit sich reden.«
»Der?« fragte Maline.
»Ja, der. Und du mußt dich nicht gleich verfärben, wenn ich bloß seinen Namen nenne. Er hat mit Lewin gesprochen und ihm seine Not geklagt.«
»Er verklagt mich überall.«
»Das sagt er auch von dir. Und nun höre mich an, Maline, und wirf nicht den Kopf. Wir waren immer gute Freunde; so laß dir raten und sei nicht eigensinnig.«
Aber ehe Renate weitersprechen konnte, barg Maline den Kopf in ihrer Herrin Bettkissen und fing heftig an zu schluchzen.
»Und nun wirst du gar noch weinen! Aber weine nur. Es ist das erste Zugeständnis, daß du unrecht hast und daß der kleine Trotzkopf es nur noch nicht eingestehen will.«
»Er hat mir meine Armut vorgeworfen.«
»Nein, das hat er nicht. Er hat dir deinen Hochmut vorgeworfen. Und da hat er recht. Und er hat auch recht in allem, was er von euch Kubalkeschen Mädchen sagt. Das ist ein ewiges Nasenrümpfen und Vornehmtun von dir und der kleinen Eve drüben, und das lassen sich die Bauern nicht gefallen. Ihr wollt beide wie Stadtmädchen sein.«
Maline nickte.
»Und was hättest du denn in der großen Stadt? Ein bißchen Putz und ein paar Anbeter mehr. Aber was käme für dich dabei heraus? Ein städtisches Elend und eine Stabstrompeter- oder Kassenbotenfrau. Nein, Maline, bleib in Hohen-Vietz; es ist ein Glück, das du machst; sind doch die Scharwenkas die reichsten Leute im Dorf, und nicht die schlechtesten. Und er liebt dich und kann nicht von dir los, trotzdem er eigentlich möchte. Und siehe, das ist so recht die Liebe, wie ich sie mir auch immer gewünscht habe, daß man einen vor Ärger umbringen und zugleich vor Sehnsucht totküssen möchte.«
»Wie gut Fräulein Renate das alles beschreiben können. Aber er muß kommen.«
»Nein, du mußt kommen.«
Maline seufzte. Dann aber plötzlich bedeckte sie Renatens Hand mit Küssen, und aufatmend, als ob eine große Last von ihr genommen wäre, sagte sie: »Wie leicht mir wieder ums Herz ist! Ach, Fräulein, Fräulein, er ist ja doch der beste Mensch von der Welt. Und es ist auch hübsch von ihm, daß er sich nicht alles gefallen läßt. Ein Mann muß doch ein Mann sein. Und eigentlich kann ich ihn ja doch um den Finger wickeln.«
Es schlug sieben, und Maline erhob sich, um der Kranken ihre Medizin zu geben.
»Doktor Leist hat recht; es schmeckt wie eine Doppellimonade. Und nun hole mir noch ein paar Kalvillen. Hier schräg unter uns aus dem alten Saal. Aber nimm den Wachsstock und sieh dich vor auf der Treppe; die Stufen sind so ausgelaufen. Und verfitze dich auch nicht in dem Bohnenstroh.«
Maline sah vor sich hin. Dann sagte sie verlegen: »Ich möchte die Äpfel doch lieber aus der Speisekammer holen, nicht aus dem alten Saale.«
»Aber wozu den weiten Weg? Wir sind ja hier Wand an Wand. Ein paar Stufen und du bist unten. Die Kalvillen liegen links neben dem Altar.«
»Ich kann nicht gehen, Fräulein Renate.«
»Was ist dir?«
»Ich fürchte mich.«
»Weshalb?«
»Er betet wieder.«
»Wer?«
»Der alte Matthias.«
Renate schloß einen Augenblick die Augen und sagte dann mit erkünstelter Ruhe: »Ich bin ihm nie begegnet. Glaubst du daran?«
»Ich weiß es nicht. Ich weiß nur, was mir die Ruschen, die alte Jätefrau, immer gesagt hat: ›Wer den Spuk verschwört, dem erscheint er.‹«
»Und wer hat ihn gesehen?«
»Nachtwächter Pachaly.«
»Wann?«
»Letzte Nacht.«
»Erzähle, was du gehört hast.«
»Ich mag nicht. Fräulein Renate werden sich erschrecken und kränker werden.«
»Nein, nein, ich will es wissen.«
»Nun gut denn. Also Krist und Pachaly hatten die Wache. Jeetze kam auch; ich sah ihn, als ich um die zehnte Stunde nach Hause kam, denn es gefiel mir nicht im Krug, und ich wollte nicht tanzen. Das gnädige Fräulein werden schon wissen, warum ich nicht tanzen wollte. Aber das muß ich sagen, er tanzte auch nicht.«
Renate nickte, während Maline die Hand ihrer jungen Herrin küßte und dann fortfuhr: »Jeetze hatte sich Krists grauen Mantel angezogen und einen alten Säbel darübergeschnallt. Es war zum Lachen. Als der gnädige Herr ihn sah, wurd' er ärgerlich und sagte: ›Das ist nichts für dich, Jeetze. Du hast deine Zeit gehabt.‹ Und dann trat er zu Krist und Pachaly und befahl ihnen, daß sie sich immer in Nähe des Hauses halten sollten. ›Krist, du nimmst die Parkseite, und Pachaly, Ihr nehmt die Dorfseite, und bei dem großen Mittelfenster des alten Saales trefft ihr zusammen. Und haltet euch immer so, daß ihr euch anrufen könnt.‹ Das alles hört' ich noch mit meinen eigenen Ohren. Aber das andere hab' ich von Pachaly.«
»Nun?«
»So gingen sie denn wohl zwei Stunden. Es war ganz still. Nur vom Krug her, wo man noch nichts wußte, hörten sie Musik. Krist, den jetzt zu frieren anfing, trat in die Hoftür und schlug Feuer an, um sich eine warme Pfeife zu stopfen. Dadurch kam es, daß sie sich für dies eine Mal bei dem großen Mittelfenster nicht trafen und daß Pachaly den langen Querbau allein passieren mußte. Als er an das letzte Fenster kam, sah er Licht; er trat näher heran und hob sich auf die Fußspitzen. Da sah er, daß das alte Bild erleuchtet war, und vor dem Altar kniete einer und betete. Er hatte aber keine Stimme zum Rufen. Indem kam Krist heran, und er winkte ihm. Dieser sah auch noch den Schein; als er aber an die Stelle treten wollte, wo Pachaly eben gestanden hatte, losch alles aus, und es war wieder dunkel. Sie hörten nur noch Schritte und ein Knistern im Stroh, das vor den Stufen lag.«
Renate hatte sich höher aufgerichtet. Die Wand, an der sie lag, war die Giebelwand, an deren anderer Seite – nur um eine Treppe tiefer – der alte Altar sich befand. Eine Herzensangst befiel sie. Sie hatte das Bedürfnis eines Zuspruchs, den ihr Maline nicht geben konnte; so sagte sie: »Du solltest mir Tante Schorlemmer rufen.«
Maline ging. Als sie aber eben die Tür öffnen wollte, rief ihr Renate nach:
»Nein, bleib!« Und dann wieder ihrer Furcht sich schämend, setzte sie hinzu: »Nein, geh; ich will mich bezwingen.«
Es vergingen Minuten. In dem nur matt erleuchteten Zimmer bewegten sich die Schatten hin und her; ihr fiebriges Auge folgte diesem Tanz und haftete zuletzt auf der Bilderreihe, die an der anderen Wand des Zimmers hing. Es waren englische Buntdruckbilder, eines ein gotisches Portal darstellend, in dem eine Ampel hing und durch das hindurch man auf einen Altar blickte. Alles in vorzüglicher Perspektive und der Altar nur ein Punkt. Sie sah ihn nicht, sie wußte nur, daß er da war. Und vor ihrem Auge wuchs jetzt das Portal, und der Altar wuchs, und vor den Stufen des Altars kniete wer. Es schlug ihr das Herz, und sie konnte doch von dem Bilde nicht lassen.
Da hörte sie Schritte draußen, und gleich darauf trat Tante Schorlemmer ein, noch die Wirtschaftsschürze vor, ein sicheres Zeichen, daß sie von Herd oder Küche abgerufen worden war. Maline, die wegen ihrer Spukgeschichte ein schlechtes Gewissen haben mochte, war zurückgeblieben.
»Wie gut, daß du kommst, liebe Schorlemmer. Ich habe eine rechte Sehnsucht nach dir gehabt. Du mußt ein bißchen mit mir plaudern. Aber erst gib mir deine Hand; so – und nun gib mir zu trinken.«
»Gott, wie du fieberst, Kind. Man darf euch auch keine halbe Stunde allein lassen. Und ich mußte doch die Hasen spicken. Auf Stinen ist kein Verlaß; das nennt sich Köchin und weiß kaum, daß der Hase sieben Häute hat. Nun trink, mein Renatchen. Ich werde noch einen Löffel Himbeeressig hineintun; das kühlt. Hast du denn auch eingenommen?«
Renate leerte das Glas, das ihr Tante Schorlemmer gereicht hatte, und sank dann erschöpft in ihre Kissen. Aber die Angst, die sie bis dahin beherrscht hatte, war doch von ihr gewichen, und als ob sie plötzlich im Schutze guter Geister sei, sagte sie ruhig: »Glaubst du an Gespenster?«
»Dacht' ich's doch. Hat die Maline wieder nicht reinen Mund halten können. In der Küche plappert das auch den ganzen Tag schon. Und da ist einer wie der andere. Nur den Pachaly hätt' ich für gescheiter gehalten. Denn er hält sich zu Uhlenhorst; und das muß man den Altlutherischen lassen, daß sie von solcher Schwachheit und Narrheit nichts wissen wollen. Sie haben eben den Glauben, und der läßt den Aberglauben nicht aufkommen.«
»Liebe Schorlemmer«, sagte Renate, »du bist so gut, aber einen kleinen Fehler hast du doch. Alles, was dir nicht paßt, das ist für dich nicht da, und wenn es doch da ist, so glaubst du es mit einem guten Spruch aus der Welt schaffen zu können.«
»Ja, mein Renatchen, das kann ich auch. Mit einem guten Spruch ist viel auszurichten. Und wer an Gott und Jesum Christum glaubt, der fürchtet keine Gespenster.«
»Du mußt mir nicht ausweichen wollen. Ich will nicht wissen, wer sich vor Gespenstern fürchtet und wer nicht; ich will nur wissen: Gibt es Gespenster?«
»Nein.«
»Und doch lebst du hier unter uns, die wir seit hundert Jahren, wie so viele alte Häuser, ein Hausgespenst haben. Wenigstens erzählen es die Leute. Lewin ist überzeugt, daß sie recht haben; du lächelst; nun gut, das soll nicht viel bedeuten. Aber auch der Papa glaubt daran, und du weißt besser als ich, daß er fest im Glauben steht. Es ist keine sechs Wochen, daß wir den Fall mit Krists Wilhelm hatten. Und nun Pachaly! Er ist doch ein verständiger Mann. Ich sage nicht ›ja‹, wo du ›nein‹ sagst, aber ich mag wenigstens die Möglichkeit nicht bestreiten.«
»Ich tue es. Wo es nicht Lug und Trug ist, ist es Sinnentäuschung. Die Toten sind tot.«
»Laß dir etwas erzählen. Ich fand einmal ein Buch, in dem las ich, daß nichts unterginge und daß an einem bestimmten Tage alles wiederkäme, die große und die kleine Welt, Mensch und Tier, auch die sogenannten leblosen Dinge. Ich würde also nicht nur dich wiedersehen und Malinen, auch Hektor und den englischen Buntdruck mit dem gotischen Portal und dem Altar, der dort drüben an der Wand hängt. Und diese durch ein Reinigungsfeuer gegangene Welt, diese verklärte Spiegelung von allem, was je dagewesen ist, würde die Seligkeit sein. Es war ein frommes Buch, in dem ich das alles fand, und ich habe nichts gelesen, das einen tieferen Eindruck auf mich gemacht hätte. Und nun frag' ich dich, was ist ein Gespenst anders als ein vorausgesandter Bote dieser verklärten Welt?«
»Es ist doch, wie ich sage: die Toten sind tot. Und die verklärte Welt, die kommen wird, ist eben keine Welt von dieser Welt. Sie harret unserer, aber nicht hier, nicht in der Zeitlichkeit. Nur einer ist, der wieder unter den Menschen erschienen, das war auf dem Wege nach Emmaus. Aber dieser eine war Christus der Herr, der Sohn des allmächtigen Gottes. Sieh, Renatchen, es muß doch einen Grund haben, daß sich die Gespenster nur an bestimmten Orten finden. In Hohen-Vietz gibt es ihrer, in Herrnhut nicht. Und auch da nicht, wo Herrnhut am Nord- oder Südpol seine Hütten und Häuser baut. Wenigstens in diesen Hütten und Häusern nicht. So hab' ich es selbst erfahren. In Grönland, rings um uns herum, sahen die Grönländer, die wohl hundert Spuke haben, ihre Gespenster ruhig weiter, aber in unserem Missionshause hat sich keins blicken lassen. Ein Herrnhuter und ein Spuk, das verträgt sich nicht. Und das, mein Renatchen, machen doch die Sprüche, von denen du meinst, daß ich mir einbildete, alles Böse damit aus der Welt schaffen zu können.«
»Sei wieder gut, Schorlemmerchen. Und zum Zeichen, daß du es bist, erzähle mir etwas von den Grönländern. Du bist nun sechs Jahre in Hohen-Vietz, und ich weiß kaum, wie der Ort hieß, an dem du so lange gelebt und geschafft und Liebes begraben hast. Erzähle mir davon, aber nichts von den grönländischen Gespenstern; ich habe an unseren Hohen-Vietzern über und über genug. Plaudere mir etwas Stilles und Heiteres vor, etwas Frommes, das mich erhebt und mich anweht wie mit himmlischer Kühlung. Denn mich verlangt nach Kühle. Aber gib mir erst von der Medizin. Es muß acht Uhr vorüber sein.«
Tante Schorlemmer tat, wie ihr geheißen; dann nach Renatens Strickzeug suchend, um Beschäftigung für ihre Hände zu haben, setzte sie sich, als alles gefunden und vorbereitet war, in den hohen Lehnstuhl und sagte: »Nun, womit beginnen wir?«
»Natürlich mit dem Anfang; also mit dem Lande selbst. Ich habe mal ein Bild gesehen: Felsen und Wasser und Eisberge und Schnee; am Ufer lag eine Robbe; daneben um den Vorsprung saß ein weißer Fuchs, während auf der Felsenkante dicke, kurzbeinige Vögel hockten. Ich glaube, sie hießen Pinguine.«
»Es ist nicht ganz so, aber es mag passieren, und ich verzichte darauf, an deinem Bilde zu verbessern.«
»Doch, doch, ich will nicht bloß unterhalten sein, ich will auch lernen.«
»Nun gut denn. So denke dir einen endlosen Küstenstrich, viele hundert Meilen lang, aber nur wenige hundert Schritt breit. Vor diesem Streifen liegt das Meer, mit tausend Inselchen betüpfelt, und hinter diesem Streifen liegt das Gebirge, das der Quere nach geborsten und zerklüftet ist, und aus diesen Klüften stürzen die Wasser dem Meere zu.«
»Ich möcht' es sehen.«
»In einer solchen Kluft lag auch unsere Kolonie. Ich sage: lag; sie liegt aber noch da und wird, so Gott will, noch manchen Tag überdauern. Und diese Kolonie hieß Neu-Herrnhut. Zu meiner Zeit hatte sie zwanzig Häuser.«
»Das ist wenig.«
»Wenig und viel. Aber wie würdest du erst staunen, wenn du diese Häuser gesehen hättest. Als Lewin heute mittag den in den Schnee hineingebauten Holzschuppen auf dem Rohrwerder beschrieb, stand auf einmal das Haus vor mir, das ich mit meinem lieben Seligen zehn Jahre lang bewohnt habe. Es war auch in drei Teile geteilt, Stall und Stube, und eine Küche dazwischen. Und was nannten wir unser? Ein Bett und eine Truhe, und darüber ein paar Pflöcke und Riegel, an denen unsere Habseligkeiten hingen. Auf dem Tische stand eine Lampe, und daneben lag Gottes Wort. Das fehlte nun freilich auf dem Rohrwerder und war doch unser Bestes, unser einziger Trost in Not und Gefahr.«
»Und waret ihr denn in Gefahr?«
»Nicht vor den Menschen, oder doch nur selten. Denn die Grönländer sind ein sanftes, stilles und sittsames Volk und verstehen es, ihre Leidenschaften zu verbergen.«
»Ich dachte mir, sie wären verzwergt und abergläubisch und sähen aus wie Hoppenmarieken.«
»Da hast du es wieder halb getroffen. Aber zur andern Hälfte nicht. Denn Hoppenmarieken ist roh, und die Grönländer sind fein. Man hört keinen Zank und keinen Streit, ja ihrer Sprache fehlen die Schimpf- und Schelteworte. Beleidigungen rächen sie durch Witz und Spöttereien, zu denen der Kläger den Beklagten wie zu einem Zweikampf herausfordert, und wer die meisten Lacher auf seiner Seite hat, der hat gesiegt. Es ist ihnen überhaupt die Gabe verliehen, sich leicht und zierlich auszudrücken. Sie sind gastfrei und gesellig, und zur Zeit der Wintersonnenwende gibt es Tänze und Ballspiel und Gesänge unter Begleitung einer Trommel. Sie sind sich übrigens ihrer guten Manieren wohl bewußt, und wenn sie einen Fremden loben wollen, so sagen sie: ›Er ist so sittsam wie wir.‹«
»Da müßt ihr ihrem Selbstgefühl gegenüber oft einen schweren Stand gehabt haben. Denn ich entsinne mich, daß Pastor Seidentopf, als wir noch zum Unterrichte gingen, zu Marie und mir sagte: ›Ein schlichter und ein großer Sinn passen gleich gut zu den Offenbarungen des Christentums, aber ein eitler Sinn widerstrebt ihnen hartnäckig.‹«
»Dafür muß ich ihm eigens noch danken, denn die Wahrheit dieses Satzes haben wir manchen lieben Tag in unserer Kolonie erfahren müssen. Es ging nicht vorwärts. Wenn wir heut einen Zoll breit gewonnen zu haben glaubten, so verloren wir ihn morgen wieder an die Angekoks.«
»An die Angekoks?«
»Ja. Das sind nämlich die Wahrsager und Zauberer, meist listige Betrüger, unter denen aber auch Schwärmer vorkommen, die Visionen haben oder sich dessen wenigstens rühmen. Sie vermitteln den Verkehr mit den beiden großen Geistern; indem sie den guten Geist anrufen und den bösen Geist bannen, von denen übrigens der gute Geist männlich und der böse weiblich ist.«
»Ei, ei, das ist aber doch ein Mangel an Galanterie, der an so feinen Leuten wie die Grönländer, die nicht einmal Schimpf- und Schelteworte haben, mich überrascht.«
»Und doch, mein Renatchen, geduldig von uns hingenommen werden muß, denn überall ist es Eva, die verführt und aus dem Paradiese treibt. Aber ich sprach von den Angekoks. Ihr natürlicher Scharfsinn kam ihnen in ihrem Widerstande gegen uns zustatten, und an Verspottungen, wie sie schon unser Herr und Heiland zu tragen hatte, fehlte es auch uns nicht, die wir uns in Demut zu ihm bekannten. Aber da erbarmte sich Gott unserer Not, und das ist denn nun die Geschichte von Kajarnak, die ich dir, wenn du noch Geduld hast, wohl erzählen möchte.«
»Was ist Kajarnak?«
»Ein Name. Der Name eines Grönländers aus dem Süden. Denn es gibt südliche und nördliche Grönländer, die nach Art aller Halbnomaden ihre Zelte bald hier, bald dort im Lande aufschlagen, um nach einer bestimmten Zeit an ihre alten Wohnplätze zurückzukehren. Und so kam denn, auf einem solchen Jagd- und Wanderzuge, ein südländischer Trupp in unsere Kolonie, um einen Tag oder eine Woche unter uns zu rasten. Es waren hundert oder mehr. Wir hießen sie willkommen, und Matthäus Stach, der damals an der Spitze unserer Kolonie stand und dem noch Friedrich Böhnisch und mein guter Schorlemmer als Gehilfen beigegeben waren, ließ bei ihnen anfragen, ob sie an einer unserer Missionsstunden teilnehmen wollten. Dies wird dich vielleicht wundern; aber du mußt wissen, daß sie es über die Maßen lieben, einen Wortstreit zu führen und sich mit Hilfe des Witzes, den sie haben, ihrer Überlegenheit bewußt zu werden. Es kamen denn auch viele. Wir hatten eben unsere Plätze eingenommen, und Matthäus Stach las ihnen ein Kapitel aus dem Evangelium Johannis vor, das er kurz vorher ins Grönländische übersetzt hatte. Sie hörten aufmerksam zu; die meisten lächelten; aber einige zeigten doch eine Teilnahme. An diese wandte sich jetzt unser Bruder und fragte sie, ob sie an eine unsterbliche Seele glaubten.«
»Aber du wolltest ja von Kajarnak erzählen.«
»Ich bin schon mitten in seiner Geschichte. Also Matthäus Stach fragte sie, ob sie an eine unsterbliche Seele glaubten? Sie antworteten: ›Ja!‹ Und nun begann er zu ihnen vom Sündenfall und von der Erlösung zu sprechen. Ich höre noch seine Stimme, denn er war ein Mann von besonderen Gaben. Da tat der Herr einem unter ihnen das Herz auf, und von so vielen Erweckungen ich auch gehört und gelesen habe, keine hat mich je tiefer bewegt. Das macht, weil sich alles so schlicht und einfach gab. Matthäus Stach, der wohl sah, daß sein Wort auf guten Boden fiel, sprach immer eindringlicher, und als er eben Christi Leiden am Ölberg geschildert hatte, da trat ein Grönländer an den Tisch und sagte mit lauter und bewegter Stimme, in der schon das Heil zitterte: ›Wie war das? Ich will das noch einmal hören.‹ Diese Worte gingen uns, die wir sie mithörten, durch Mark und Bein, und sie sind in Neu-Herrnhut unvergessen geblieben. Von der Stunde an war der Segen Gottes über unserem Tun.«
»Es konnte nicht wohl anders sein. Solche Worte verklingen nicht. Empfind' ich doch in diesem Augenblick noch ihre Wirkung.«
Tante Schorlemmer küßte Renatens Stirn und fuhr dann fort: »Eine Woche verging, und der Grönländertrupp war immer noch in unserer Kolonie. Dann aber brachen sie auf, um weiter nördlich ihren Jagden nachzugehen, und nur Kajarnak blieb zurück; mit ihm seine beiden Schwäger samt ihren Frauen und Kindern, alles in allem vierzehn Personen. Wir lobten ihr Bleiben und hatten Betstunde mit ihnen. Die Kinder empfingen Unterricht, was sehr schwer war, da die Grönländer das, was wir Erziehung nennen, gar nicht kennen. Sie lieben nämlich ihre Kinder mit äffischer Zärtlichkeit und lassen sie aufwachsen, ohne Gehorsam zu fordern oder Ungehorsam zu strafen. Als ein halbes Jahr um war, stellte Matthäus Stach die Frage, ob es Zeit sei, die nun Vorbereiteten zu taufen; aber mein guter Schorlemmer, der den Unterricht geleitet hatte, meinte doch, daß es ihm geboten scheine, noch zu warten. Und so geschah es. Erst am zweiten Ostertage wurden vier Angehörige dieser grönländischen Erstlingsfamilie von der Macht der Finsternis losgerissen; Kajarnak erhielt den Namen Samuel, seine Frau wurde Anna, sein Sohn Matthäus, seine Tochter Anna genannt. Darüber war große Freude in der Kolonie. Aber die Freude sollte nicht lange währen. Vier Wochen später kam Nachricht, daß der ältere Schwager, der sich auf kurze Zeit von uns entfernt und einem Jagdzuge nach dem Norden angeschlossen hatte, auf eine hinterlistige und grausame Weise ermordet worden sei, weil er den Sohn eines heidnisch gebliebenen Grönländers mit Christensprüchen totgehext habe. Zugleich wurde hinzugesetzt, daß die Angekoks in einer großen Verschwörung seien, um auch dem jüngeren Schwager Kajarnaks dasselbe Los zu bereiten. Da bemächtigte sich unserer kleinen grönländischen Gemeinde, sowohl der Getauften wie derer, die noch in Vorbereitung waren, ein Zittern und Zagen, und sie beschlossen, in den Süden zurückzukehren, wo sie unter ihren Verwandten sicherer zu sein hofften. Ach, wir mußten sie ziehen lassen, so schwer es uns auch wurde, und ich sehe noch Kajarnak, wie er bitterlich weinte und immer wieder uns Festigkeit gelobte und sich dann losriß; und wie dann die Schlitten in langer Linie an uns vorüberfuhren, über Fiskenäs und Frederikshaab auf den Süden zu.«
»Und hielt er Wort?«
»Wir hatten wenig Hoffnung, denn es war ein neuer Abfall über die Gemüter gekommen, und selbst solche, die sich in unserer Nähe hielten, gehorchten wieder den Angekoks. Wir waren betrübten Gemütes, auch ich, die ich nach meiner schwachen Kraft all die Zeit über meinem guten Schorlemmer getreulich zur Seite gestanden hatte. Ein Jahr verging, ohne daß Kunde von Kajarnak gekommen wäre, am wenigsten er selbst. Da feierten wir, es war am Johannistag, die Hochzeit von Anna Stach und Friedrich Böhnisch, und als wir bei unserem Mahl waren und erbauliche Lieder sangen, die, was dich vielleicht verwundern wird, von drei Violinen und einer Flöte begleitet wurden, da trat Kajarnak in den Brüdersaal und begrüßte uns. Die Freude war so groß, daß wie von selber aus dem Hochzeitsfest ein Fest des Wiedersehens wurde. Wir hatten ja unsern verlornen Sohn wieder oder doch den, den wir schon als einen solchen betrachtet hatten. Und nun mußte Kajarnak erzählen, alles Große und Kleine, und wie die Seinen ihn aufgenommen hätten. Er verschwieg uns nichts. Sie hätten ihn anfangs oft und mit sichtlichem Vergnügen angehört; als sie dann aber seines Wortes überdrüssig geworden wären, habe er sich in die Stille begeben und seine Erbauung allein gehabt. Zuletzt habe es ihn sehr verlangt, wieder bei uns, seinen Brüdern, zu sein, immer mehr und mehr, bis ihm die Sehnsucht nicht Ruhe und Rast gelassen habe; und da sei er nun. Mein guter Schorlemmer, der ihn so recht eigentlich in das Heil eingeführt hatte, weinte vor Freuden, und Friedrich Böhnisch sagte, das sei ihm eine unvergeßliche Stunde und sein Ehrentag habe nun eine doppelte Weihe.«
»Das durft' er sagen. Es war ein Hochzeitstag, wie ihn sich jeder wünschen mag! Mir würde dieses Wiedersehen ein Zeichen froher Vorbedeutung gewesen sein.«
»Und das war es auch. Das junge Paar wurde glücklich. Auch Kajarnak. Aber seine Tage waren gezählt. Ich glaube fast, daß er sich in seiner Treue nicht genug tun konnte und daß er sich (er war nur von schwachem Körper) in seinem Eifer übernahm. So wurd' er denn von einem heftigen Lungen- und Seitenstechen befallen, das seinem Leben rasch ein Ende machte. In den größten Schmerzen bewies er ein gesetztes Wesen, und wenn die Seinigen anfingen, um ihn zu weinen, sagte er: ›Betrübet euch nicht. Ihr wisset, daß ich von euch der erste gewesen bin, der sich zu dem Sohne Gottes bekehrt hat, und nun ist es sein Wille, daß ich der erste sein soll, der zu ihm kommt. Wenn ihr ihm treu seid, so werden wir uns wiedersehen und uns über die Gnade, die er an uns getan hat, ewiglich freuen.‹ Danach schlief er ein, während unsere Gebete seine scheidende Seele dem Erbarmer empfahlen. Seine Frau bestand darauf, daß er nicht nach Landessitte, sondern nach christlicher Weise begraben würde. Und so geschah es. Nicht nur die Brüder und ihre Angehörigen, auch die Kaufleute von der Kolonie fanden sich zu seinem Begräbnis ein, mit dem unser neuer Gottesacker eingeweiht wurde. Die Grönländer wunderten sich über alles, was sie sahen; unseren Brüdern aber ging dieser Tod sehr nahe. Denn sie verloren viel in ihm: einen erweckten, begabten und gesegneten Zeugen des Evangeliums.
Und da hast du nun meine Geschichte von Kajarnak, dem ersten Getauften.«
Renate ergriff die Hand ihrer alten Freundin und sagte: »Ach wie ich dir danke, liebe Schorlemmer. Es ist nun alle Furcht wie verflogen, und ich fühle mich, als hätt' ich nie von Spuk und Gespenstern gehört. Und nun will ich schlafen. Aber sage mir noch erst den Spruch von den vierzehn Engeln. Wir wollen ihn zusammen sprechen:
Abends bei Zubettegehn
Vierzehn Engel bei mir stehn;
Zwei zu Häupten,
Zwei zu Füßen,
Zwei zu meiner rechten Seit',
Zwei zu meiner linken Seit',
Zwei, die mich decken,
Zwei, die mich strecken,
Zwei, die führen mich sogleich
In das liebe Himmelreich.«
Sie schwiegen eine Weile. Dann sagte Renate: »Und nun geh. Ich habe ja nun Schutz. Laß nur die Seitentür auf, daß mich Maline hört.«
»Gute Nacht, Renatchen!«
»Gute Nacht, liebe Schorlemmer!«
Von Kajarnak, dem Grönländer
Um zwei Uhr waren unsere Hohen-Vietzer wieder in ihrem Dorf, und eine halbe Stunde später wußte jeder bis auf die letzten Lose hinaus, daß die Strolche gefunden und auf dem Wege nach Frankfurt seien. Im Kruge, wo sich bald einige Bauern, auch Kallies und Kümmeritz, versammelten, entsann man sich Muschwitzens sehr wohl, der immer ein Tagedieb und Taugenichts gewesen sei, und erging sich in Vermutungen, woher er den französischen Soldatenrock genommen haben könne, Vermutungen, die mit Totschlag begannen und über qualifizierten Diebstahl hin einfach bei Tausch oder Kauf endigten. Dies letztere war denn auch das wahrscheinlichste. In Küstrin, wo der Typhus jeden Tag die Reihen der französischen, zum Teil aus Hessen und Westfalen bestehenden Garnison lichtete, war zu solchen »Geschäften unter der Hand« die reichlichste Gelegenheit gegeben. Von Rosentreter wußte niemand. Das Lob des Hütejungen war auf aller Lippen.
Auch im Herrenhause riß das Erzählen gar nicht ab. Kathinka und Tante Schorlemmer wollten alles bis auf die kleinsten Züge wissen, und als es unten im Wohnzimmer nichts mehr zu berichten gab, wurde oben in Renatens Krankenzimmer das Berichterstatten fortgesetzt. Lewin saß eine Stunde lang an ihrem Bett und ließ der Reihenfolge nach erst das Absuchen des Wäldchens, dann den Überfall und den Transport der Gefangenen an ihrem Auge vorüberziehen. Nichts wurde vergessen; namentlich hob er aus seinem Gespräche mit dem jungen Scharwenka hervor, daß Maline unrecht habe, pries Hanne Boguns Umsicht und schilderte schließlich den Eindruck, den die auf dem Rohrwerder mitgefangene Frau auf ihn gemacht habe.
So kam die Tischstunde heran. Der alte Vitzewitz war in bester Laune, und so unbequem es ihm sein mochte, mit seiner Hypothese von den »Marodeurs« und »Deserteurs« eine arge Niederlage erlitten zu haben, so gewann er es doch über sich, was sonst nicht seine Art war, über sich selbst und seinen Rechnungsfehler zu scherzen. Wußte er doch, daß er schließlich recht behalten würde. Alles war nur Frage der Zeit.
Gleich nach Tisch sollte zu Graf Drosselstein nach Hohen-Ziesar hinübergefahren werden; Tubal und Kathinka schuldeten ihm ohnehin noch ihren Besuch, der, wenn er überhaupt noch gemacht werden sollte, nicht hinausgeschoben werden konnte. Denn am andern Tage schon sollte von Schloß Guse aus die Rückkehr beider Geschwister nach Berlin angetreten werden. Krist mit den Ponys hielt schon vor der Treppe, als die Tafel aufgehoben wurde; wenige Minuten später bog der Wagen von der Auffahrt her in die Dorfstraße ein. Kathinka, einer ihrer Passionen folgend, hatte die Leinen genommen und fuhr. Als sie an Miekleys Mühle vorüberkamen, begegnete ihnen Doktor Leist von Lebus, der sich getreulich einstellte, um nach seiner Kranken zu sehen. Nur kurze Grüße wurden gewechselt.
Alte-Doktor Leist, der seit zwanzig Jahren im Hohen-Vietzer Herrenhause so gut Bescheid wußte wie in seinem eigenen, stieg, nachdem er ein paar Worte mit Jeetze gewechselt und von dem großen Ereignis des Tages gehört hatte, treppan und trat bei Renaten ein.
Nur Maline war bei ihr. Das Schlafzimmer, jetzt auch Krankenzimmer, lag auf der der Gerichtsstube entgegengesetzten Seite des Hauses und war nur durch eine Giebelwand von dem mehrgenannten alten Querbau getrennt, der ehedem als Bankettsaal, dann als Kapelle gedient und nun längst schon seine früheren Bestimmungen mit der bescheidenen einer großen Obst- und Rumpelkammer vertauscht hatte. Am Ende des Korridors befand sich eine schmale Tür, die mit Hilfe einer hochstufigen Treppe die Verbindung mit diesem alten Querbau unterhielt. Doktor Leist trat an das Bett der Kranken, fühlte den Puls und sagte dann, während er eine fieberstillende Arznei auswickelte:
»Hier bring' ich etwas. Der alte Doktor Leist ist wie der Weihnachtsmann; er bringt immer etwas mit.«
»Nur der Weihnachtsmann bringt Süßes, und Doktor Leist bringt Bitteres.«
»Nicht doch, nicht doch, Renatchen. Da sollten Sie den alten Leist doch besser kennen. Der weiß, was sich schickt, und kennt seine deutschen Sprichwörter. Gleich und gleich gesellt sich gern. Und für so liebe kleine Fräuleins ist das Bittere gar nicht da.«
»Also sauer?«
»Sauer und süß; eine Doppellimonade.«
»Das ist recht. Ich fürchte mich vor jedem Löffel Medizin. Aber eine Doppellimonade, das mag gehen. Und wie ist es mit der Diät, Doktorchen?«
»Nicht zu streng. Sagen wir: ein Biskuit und etwas gestowtes Obst.«
»Nicht auch frisches?«
»Allenfalls auch frisches. Aber mit Auswahl. Etwa einen mürben Gravensteiner oder eine Kalville.«
»Danke, danke. Die lieb' ich gerade sehr. Und darf ich mir auch etwas vorplaudern lassen? Von Maline?«
»Gut, gut.«
»Oder von Tante Schorlemmer?«
»Noch besser. Sie wird, denk' ich, mehr kalmieren als irritieren. Und das ist genau, was wir brauchen.«
Damit empfahl sich Doktor Leist und versprach, am andern Tage wiederzukommen.
Der Alte war kaum fort, als Renate Malinen heranwinkte.
»Nun nimm eine Fußbank und setze dich zu mir; hier dicht an mein Bett. Wir haben ja des Doktors Erlaubnis. Und nun gib mir deine Hand. Ach, wie schön kühl du bist. Wenn ich nur eine ruhige Nacht hätte! Aber ich habe immer Bilder vor den Augen.«
»Das ist das Fieber.«
»Ja, das Fieber. Und das quält mich, daß ich den Anblick der armen Frau nicht loswerden kann.«
»Welcher Frau?«
»Die sie heute mittag auf dem Rohrwerder mit aufgespürt haben. Lewin sagte mir, daß kein rohes Wort, nicht einmal eine Klage über ihre Lippen gekommen sei.«
»Aber, Fräulein, es ist ja eine Diebin. Und keiner weiß, wem sie zugehört. Krist sagte mir: ›Sie hat zwei Männer oder keinen.‹ Und das ist doch schlimm, das eine wie das andere.«
»Ich habe doch Mitleid mit ihr, und so recht eigentlich schlecht kann sie nicht sein; denn sieh, sie hat nicht an sich gedacht, sondern erst an ihr Kind und hat es in einen kleinen Schlittenkasten gepackt und es mit sich genommen. Und nun seh' ich immer die lange Frankfurter Pappelallee vor mir, die kein Ende nimmt und weit, weit am Horizonte zu einem Punkte zusammenläuft. Und zwischen den Pappeln geht die Frau und zieht den Schlittenkasten, in dem das Kind sitzt, und wenn sie aufwärts, abwärts an den Punkt kommt, wo die Pappeln ein Ende zu nehmen schienen, dann tut sich eine neue Allee auf, die noch länger ist und wieder in einem Punkte zusammenläuft. Und die Frau wird immer matter und müder. Es peinigt mich. Ich wollte, daß ich das Bild loswerden könnte.«
»Krull und Reetzke sind ja gute Leute und werden ihr nicht mehr auflegen, als sie tragen kann.«
»Es sind Bauern, und Bauern sind hart und taub. Ich wollte, der junge Scharwenka hätte den Transport übernommen. Der ist schon anders und läßt mit sich reden.«
»Der?« fragte Maline.
»Ja, der. Und du mußt dich nicht gleich verfärben, wenn ich bloß seinen Namen nenne. Er hat mit Lewin gesprochen und ihm seine Not geklagt.«
»Er verklagt mich überall.«
»Das sagt er auch von dir. Und nun höre mich an, Maline, und wirf nicht den Kopf. Wir waren immer gute Freunde; so laß dir raten und sei nicht eigensinnig.«
Aber ehe Renate weitersprechen konnte, barg Maline den Kopf in ihrer Herrin Bettkissen und fing heftig an zu schluchzen.
»Und nun wirst du gar noch weinen! Aber weine nur. Es ist das erste Zugeständnis, daß du unrecht hast und daß der kleine Trotzkopf es nur noch nicht eingestehen will.«
»Er hat mir meine Armut vorgeworfen.«
»Nein, das hat er nicht. Er hat dir deinen Hochmut vorgeworfen. Und da hat er recht. Und er hat auch recht in allem, was er von euch Kubalkeschen Mädchen sagt. Das ist ein ewiges Nasenrümpfen und Vornehmtun von dir und der kleinen Eve drüben, und das lassen sich die Bauern nicht gefallen. Ihr wollt beide wie Stadtmädchen sein.«
Maline nickte.
»Und was hättest du denn in der großen Stadt? Ein bißchen Putz und ein paar Anbeter mehr. Aber was käme für dich dabei heraus? Ein städtisches Elend und eine Stabstrompeter- oder Kassenbotenfrau. Nein, Maline, bleib in Hohen-Vietz; es ist ein Glück, das du machst; sind doch die Scharwenkas die reichsten Leute im Dorf, und nicht die schlechtesten. Und er liebt dich und kann nicht von dir los, trotzdem er eigentlich möchte. Und siehe, das ist so recht die Liebe, wie ich sie mir auch immer gewünscht habe, daß man einen vor Ärger umbringen und zugleich vor Sehnsucht totküssen möchte.«
»Wie gut Fräulein Renate das alles beschreiben können. Aber er muß kommen.«
»Nein, du mußt kommen.«
Maline seufzte. Dann aber plötzlich bedeckte sie Renatens Hand mit Küssen, und aufatmend, als ob eine große Last von ihr genommen wäre, sagte sie: »Wie leicht mir wieder ums Herz ist! Ach, Fräulein, Fräulein, er ist ja doch der beste Mensch von der Welt. Und es ist auch hübsch von ihm, daß er sich nicht alles gefallen läßt. Ein Mann muß doch ein Mann sein. Und eigentlich kann ich ihn ja doch um den Finger wickeln.«
Es schlug sieben, und Maline erhob sich, um der Kranken ihre Medizin zu geben.
»Doktor Leist hat recht; es schmeckt wie eine Doppellimonade. Und nun hole mir noch ein paar Kalvillen. Hier schräg unter uns aus dem alten Saal. Aber nimm den Wachsstock und sieh dich vor auf der Treppe; die Stufen sind so ausgelaufen. Und verfitze dich auch nicht in dem Bohnenstroh.«
Maline sah vor sich hin. Dann sagte sie verlegen: »Ich möchte die Äpfel doch lieber aus der Speisekammer holen, nicht aus dem alten Saale.«
»Aber wozu den weiten Weg? Wir sind ja hier Wand an Wand. Ein paar Stufen und du bist unten. Die Kalvillen liegen links neben dem Altar.«
»Ich kann nicht gehen, Fräulein Renate.«
»Was ist dir?«
»Ich fürchte mich.«
»Weshalb?«
»Er betet wieder.«
»Wer?«
»Der alte Matthias.«
Renate schloß einen Augenblick die Augen und sagte dann mit erkünstelter Ruhe: »Ich bin ihm nie begegnet. Glaubst du daran?«
»Ich weiß es nicht. Ich weiß nur, was mir die Ruschen, die alte Jätefrau, immer gesagt hat: ›Wer den Spuk verschwört, dem erscheint er.‹«
»Und wer hat ihn gesehen?«
»Nachtwächter Pachaly.«
»Wann?«
»Letzte Nacht.«
»Erzähle, was du gehört hast.«
»Ich mag nicht. Fräulein Renate werden sich erschrecken und kränker werden.«
»Nein, nein, ich will es wissen.«
»Nun gut denn. Also Krist und Pachaly hatten die Wache. Jeetze kam auch; ich sah ihn, als ich um die zehnte Stunde nach Hause kam, denn es gefiel mir nicht im Krug, und ich wollte nicht tanzen. Das gnädige Fräulein werden schon wissen, warum ich nicht tanzen wollte. Aber das muß ich sagen, er tanzte auch nicht.«
Renate nickte, während Maline die Hand ihrer jungen Herrin küßte und dann fortfuhr: »Jeetze hatte sich Krists grauen Mantel angezogen und einen alten Säbel darübergeschnallt. Es war zum Lachen. Als der gnädige Herr ihn sah, wurd' er ärgerlich und sagte: ›Das ist nichts für dich, Jeetze. Du hast deine Zeit gehabt.‹ Und dann trat er zu Krist und Pachaly und befahl ihnen, daß sie sich immer in Nähe des Hauses halten sollten. ›Krist, du nimmst die Parkseite, und Pachaly, Ihr nehmt die Dorfseite, und bei dem großen Mittelfenster des alten Saales trefft ihr zusammen. Und haltet euch immer so, daß ihr euch anrufen könnt.‹ Das alles hört' ich noch mit meinen eigenen Ohren. Aber das andere hab' ich von Pachaly.«
»Nun?«
»So gingen sie denn wohl zwei Stunden. Es war ganz still. Nur vom Krug her, wo man noch nichts wußte, hörten sie Musik. Krist, den jetzt zu frieren anfing, trat in die Hoftür und schlug Feuer an, um sich eine warme Pfeife zu stopfen. Dadurch kam es, daß sie sich für dies eine Mal bei dem großen Mittelfenster nicht trafen und daß Pachaly den langen Querbau allein passieren mußte. Als er an das letzte Fenster kam, sah er Licht; er trat näher heran und hob sich auf die Fußspitzen. Da sah er, daß das alte Bild erleuchtet war, und vor dem Altar kniete einer und betete. Er hatte aber keine Stimme zum Rufen. Indem kam Krist heran, und er winkte ihm. Dieser sah auch noch den Schein; als er aber an die Stelle treten wollte, wo Pachaly eben gestanden hatte, losch alles aus, und es war wieder dunkel. Sie hörten nur noch Schritte und ein Knistern im Stroh, das vor den Stufen lag.«
Renate hatte sich höher aufgerichtet. Die Wand, an der sie lag, war die Giebelwand, an deren anderer Seite – nur um eine Treppe tiefer – der alte Altar sich befand. Eine Herzensangst befiel sie. Sie hatte das Bedürfnis eines Zuspruchs, den ihr Maline nicht geben konnte; so sagte sie: »Du solltest mir Tante Schorlemmer rufen.«
Maline ging. Als sie aber eben die Tür öffnen wollte, rief ihr Renate nach:
»Nein, bleib!« Und dann wieder ihrer Furcht sich schämend, setzte sie hinzu: »Nein, geh; ich will mich bezwingen.«
Es vergingen Minuten. In dem nur matt erleuchteten Zimmer bewegten sich die Schatten hin und her; ihr fiebriges Auge folgte diesem Tanz und haftete zuletzt auf der Bilderreihe, die an der anderen Wand des Zimmers hing. Es waren englische Buntdruckbilder, eines ein gotisches Portal darstellend, in dem eine Ampel hing und durch das hindurch man auf einen Altar blickte. Alles in vorzüglicher Perspektive und der Altar nur ein Punkt. Sie sah ihn nicht, sie wußte nur, daß er da war. Und vor ihrem Auge wuchs jetzt das Portal, und der Altar wuchs, und vor den Stufen des Altars kniete wer. Es schlug ihr das Herz, und sie konnte doch von dem Bilde nicht lassen.
Da hörte sie Schritte draußen, und gleich darauf trat Tante Schorlemmer ein, noch die Wirtschaftsschürze vor, ein sicheres Zeichen, daß sie von Herd oder Küche abgerufen worden war. Maline, die wegen ihrer Spukgeschichte ein schlechtes Gewissen haben mochte, war zurückgeblieben.
»Wie gut, daß du kommst, liebe Schorlemmer. Ich habe eine rechte Sehnsucht nach dir gehabt. Du mußt ein bißchen mit mir plaudern. Aber erst gib mir deine Hand; so – und nun gib mir zu trinken.«
»Gott, wie du fieberst, Kind. Man darf euch auch keine halbe Stunde allein lassen. Und ich mußte doch die Hasen spicken. Auf Stinen ist kein Verlaß; das nennt sich Köchin und weiß kaum, daß der Hase sieben Häute hat. Nun trink, mein Renatchen. Ich werde noch einen Löffel Himbeeressig hineintun; das kühlt. Hast du denn auch eingenommen?«
Renate leerte das Glas, das ihr Tante Schorlemmer gereicht hatte, und sank dann erschöpft in ihre Kissen. Aber die Angst, die sie bis dahin beherrscht hatte, war doch von ihr gewichen, und als ob sie plötzlich im Schutze guter Geister sei, sagte sie ruhig: »Glaubst du an Gespenster?«
»Dacht' ich's doch. Hat die Maline wieder nicht reinen Mund halten können. In der Küche plappert das auch den ganzen Tag schon. Und da ist einer wie der andere. Nur den Pachaly hätt' ich für gescheiter gehalten. Denn er hält sich zu Uhlenhorst; und das muß man den Altlutherischen lassen, daß sie von solcher Schwachheit und Narrheit nichts wissen wollen. Sie haben eben den Glauben, und der läßt den Aberglauben nicht aufkommen.«
»Liebe Schorlemmer«, sagte Renate, »du bist so gut, aber einen kleinen Fehler hast du doch. Alles, was dir nicht paßt, das ist für dich nicht da, und wenn es doch da ist, so glaubst du es mit einem guten Spruch aus der Welt schaffen zu können.«
»Ja, mein Renatchen, das kann ich auch. Mit einem guten Spruch ist viel auszurichten. Und wer an Gott und Jesum Christum glaubt, der fürchtet keine Gespenster.«
»Du mußt mir nicht ausweichen wollen. Ich will nicht wissen, wer sich vor Gespenstern fürchtet und wer nicht; ich will nur wissen: Gibt es Gespenster?«
»Nein.«
»Und doch lebst du hier unter uns, die wir seit hundert Jahren, wie so viele alte Häuser, ein Hausgespenst haben. Wenigstens erzählen es die Leute. Lewin ist überzeugt, daß sie recht haben; du lächelst; nun gut, das soll nicht viel bedeuten. Aber auch der Papa glaubt daran, und du weißt besser als ich, daß er fest im Glauben steht. Es ist keine sechs Wochen, daß wir den Fall mit Krists Wilhelm hatten. Und nun Pachaly! Er ist doch ein verständiger Mann. Ich sage nicht ›ja‹, wo du ›nein‹ sagst, aber ich mag wenigstens die Möglichkeit nicht bestreiten.«
»Ich tue es. Wo es nicht Lug und Trug ist, ist es Sinnentäuschung. Die Toten sind tot.«
»Laß dir etwas erzählen. Ich fand einmal ein Buch, in dem las ich, daß nichts unterginge und daß an einem bestimmten Tage alles wiederkäme, die große und die kleine Welt, Mensch und Tier, auch die sogenannten leblosen Dinge. Ich würde also nicht nur dich wiedersehen und Malinen, auch Hektor und den englischen Buntdruck mit dem gotischen Portal und dem Altar, der dort drüben an der Wand hängt. Und diese durch ein Reinigungsfeuer gegangene Welt, diese verklärte Spiegelung von allem, was je dagewesen ist, würde die Seligkeit sein. Es war ein frommes Buch, in dem ich das alles fand, und ich habe nichts gelesen, das einen tieferen Eindruck auf mich gemacht hätte. Und nun frag' ich dich, was ist ein Gespenst anders als ein vorausgesandter Bote dieser verklärten Welt?«
»Es ist doch, wie ich sage: die Toten sind tot. Und die verklärte Welt, die kommen wird, ist eben keine Welt von dieser Welt. Sie harret unserer, aber nicht hier, nicht in der Zeitlichkeit. Nur einer ist, der wieder unter den Menschen erschienen, das war auf dem Wege nach Emmaus. Aber dieser eine war Christus der Herr, der Sohn des allmächtigen Gottes. Sieh, Renatchen, es muß doch einen Grund haben, daß sich die Gespenster nur an bestimmten Orten finden. In Hohen-Vietz gibt es ihrer, in Herrnhut nicht. Und auch da nicht, wo Herrnhut am Nord- oder Südpol seine Hütten und Häuser baut. Wenigstens in diesen Hütten und Häusern nicht. So hab' ich es selbst erfahren. In Grönland, rings um uns herum, sahen die Grönländer, die wohl hundert Spuke haben, ihre Gespenster ruhig weiter, aber in unserem Missionshause hat sich keins blicken lassen. Ein Herrnhuter und ein Spuk, das verträgt sich nicht. Und das, mein Renatchen, machen doch die Sprüche, von denen du meinst, daß ich mir einbildete, alles Böse damit aus der Welt schaffen zu können.«
»Sei wieder gut, Schorlemmerchen. Und zum Zeichen, daß du es bist, erzähle mir etwas von den Grönländern. Du bist nun sechs Jahre in Hohen-Vietz, und ich weiß kaum, wie der Ort hieß, an dem du so lange gelebt und geschafft und Liebes begraben hast. Erzähle mir davon, aber nichts von den grönländischen Gespenstern; ich habe an unseren Hohen-Vietzern über und über genug. Plaudere mir etwas Stilles und Heiteres vor, etwas Frommes, das mich erhebt und mich anweht wie mit himmlischer Kühlung. Denn mich verlangt nach Kühle. Aber gib mir erst von der Medizin. Es muß acht Uhr vorüber sein.«
Tante Schorlemmer tat, wie ihr geheißen; dann nach Renatens Strickzeug suchend, um Beschäftigung für ihre Hände zu haben, setzte sie sich, als alles gefunden und vorbereitet war, in den hohen Lehnstuhl und sagte: »Nun, womit beginnen wir?«
»Natürlich mit dem Anfang; also mit dem Lande selbst. Ich habe mal ein Bild gesehen: Felsen und Wasser und Eisberge und Schnee; am Ufer lag eine Robbe; daneben um den Vorsprung saß ein weißer Fuchs, während auf der Felsenkante dicke, kurzbeinige Vögel hockten. Ich glaube, sie hießen Pinguine.«
»Es ist nicht ganz so, aber es mag passieren, und ich verzichte darauf, an deinem Bilde zu verbessern.«
»Doch, doch, ich will nicht bloß unterhalten sein, ich will auch lernen.«
»Nun gut denn. So denke dir einen endlosen Küstenstrich, viele hundert Meilen lang, aber nur wenige hundert Schritt breit. Vor diesem Streifen liegt das Meer, mit tausend Inselchen betüpfelt, und hinter diesem Streifen liegt das Gebirge, das der Quere nach geborsten und zerklüftet ist, und aus diesen Klüften stürzen die Wasser dem Meere zu.«
»Ich möcht' es sehen.«
»In einer solchen Kluft lag auch unsere Kolonie. Ich sage: lag; sie liegt aber noch da und wird, so Gott will, noch manchen Tag überdauern. Und diese Kolonie hieß Neu-Herrnhut. Zu meiner Zeit hatte sie zwanzig Häuser.«
»Das ist wenig.«
»Wenig und viel. Aber wie würdest du erst staunen, wenn du diese Häuser gesehen hättest. Als Lewin heute mittag den in den Schnee hineingebauten Holzschuppen auf dem Rohrwerder beschrieb, stand auf einmal das Haus vor mir, das ich mit meinem lieben Seligen zehn Jahre lang bewohnt habe. Es war auch in drei Teile geteilt, Stall und Stube, und eine Küche dazwischen. Und was nannten wir unser? Ein Bett und eine Truhe, und darüber ein paar Pflöcke und Riegel, an denen unsere Habseligkeiten hingen. Auf dem Tische stand eine Lampe, und daneben lag Gottes Wort. Das fehlte nun freilich auf dem Rohrwerder und war doch unser Bestes, unser einziger Trost in Not und Gefahr.«
»Und waret ihr denn in Gefahr?«
»Nicht vor den Menschen, oder doch nur selten. Denn die Grönländer sind ein sanftes, stilles und sittsames Volk und verstehen es, ihre Leidenschaften zu verbergen.«
»Ich dachte mir, sie wären verzwergt und abergläubisch und sähen aus wie Hoppenmarieken.«
»Da hast du es wieder halb getroffen. Aber zur andern Hälfte nicht. Denn Hoppenmarieken ist roh, und die Grönländer sind fein. Man hört keinen Zank und keinen Streit, ja ihrer Sprache fehlen die Schimpf- und Schelteworte. Beleidigungen rächen sie durch Witz und Spöttereien, zu denen der Kläger den Beklagten wie zu einem Zweikampf herausfordert, und wer die meisten Lacher auf seiner Seite hat, der hat gesiegt. Es ist ihnen überhaupt die Gabe verliehen, sich leicht und zierlich auszudrücken. Sie sind gastfrei und gesellig, und zur Zeit der Wintersonnenwende gibt es Tänze und Ballspiel und Gesänge unter Begleitung einer Trommel. Sie sind sich übrigens ihrer guten Manieren wohl bewußt, und wenn sie einen Fremden loben wollen, so sagen sie: ›Er ist so sittsam wie wir.‹«
»Da müßt ihr ihrem Selbstgefühl gegenüber oft einen schweren Stand gehabt haben. Denn ich entsinne mich, daß Pastor Seidentopf, als wir noch zum Unterrichte gingen, zu Marie und mir sagte: ›Ein schlichter und ein großer Sinn passen gleich gut zu den Offenbarungen des Christentums, aber ein eitler Sinn widerstrebt ihnen hartnäckig.‹«
»Dafür muß ich ihm eigens noch danken, denn die Wahrheit dieses Satzes haben wir manchen lieben Tag in unserer Kolonie erfahren müssen. Es ging nicht vorwärts. Wenn wir heut einen Zoll breit gewonnen zu haben glaubten, so verloren wir ihn morgen wieder an die Angekoks.«
»An die Angekoks?«
»Ja. Das sind nämlich die Wahrsager und Zauberer, meist listige Betrüger, unter denen aber auch Schwärmer vorkommen, die Visionen haben oder sich dessen wenigstens rühmen. Sie vermitteln den Verkehr mit den beiden großen Geistern; indem sie den guten Geist anrufen und den bösen Geist bannen, von denen übrigens der gute Geist männlich und der böse weiblich ist.«
»Ei, ei, das ist aber doch ein Mangel an Galanterie, der an so feinen Leuten wie die Grönländer, die nicht einmal Schimpf- und Schelteworte haben, mich überrascht.«
»Und doch, mein Renatchen, geduldig von uns hingenommen werden muß, denn überall ist es Eva, die verführt und aus dem Paradiese treibt. Aber ich sprach von den Angekoks. Ihr natürlicher Scharfsinn kam ihnen in ihrem Widerstande gegen uns zustatten, und an Verspottungen, wie sie schon unser Herr und Heiland zu tragen hatte, fehlte es auch uns nicht, die wir uns in Demut zu ihm bekannten. Aber da erbarmte sich Gott unserer Not, und das ist denn nun die Geschichte von Kajarnak, die ich dir, wenn du noch Geduld hast, wohl erzählen möchte.«
»Was ist Kajarnak?«
»Ein Name. Der Name eines Grönländers aus dem Süden. Denn es gibt südliche und nördliche Grönländer, die nach Art aller Halbnomaden ihre Zelte bald hier, bald dort im Lande aufschlagen, um nach einer bestimmten Zeit an ihre alten Wohnplätze zurückzukehren. Und so kam denn, auf einem solchen Jagd- und Wanderzuge, ein südländischer Trupp in unsere Kolonie, um einen Tag oder eine Woche unter uns zu rasten. Es waren hundert oder mehr. Wir hießen sie willkommen, und Matthäus Stach, der damals an der Spitze unserer Kolonie stand und dem noch Friedrich Böhnisch und mein guter Schorlemmer als Gehilfen beigegeben waren, ließ bei ihnen anfragen, ob sie an einer unserer Missionsstunden teilnehmen wollten. Dies wird dich vielleicht wundern; aber du mußt wissen, daß sie es über die Maßen lieben, einen Wortstreit zu führen und sich mit Hilfe des Witzes, den sie haben, ihrer Überlegenheit bewußt zu werden. Es kamen denn auch viele. Wir hatten eben unsere Plätze eingenommen, und Matthäus Stach las ihnen ein Kapitel aus dem Evangelium Johannis vor, das er kurz vorher ins Grönländische übersetzt hatte. Sie hörten aufmerksam zu; die meisten lächelten; aber einige zeigten doch eine Teilnahme. An diese wandte sich jetzt unser Bruder und fragte sie, ob sie an eine unsterbliche Seele glaubten.«
»Aber du wolltest ja von Kajarnak erzählen.«
»Ich bin schon mitten in seiner Geschichte. Also Matthäus Stach fragte sie, ob sie an eine unsterbliche Seele glaubten? Sie antworteten: ›Ja!‹ Und nun begann er zu ihnen vom Sündenfall und von der Erlösung zu sprechen. Ich höre noch seine Stimme, denn er war ein Mann von besonderen Gaben. Da tat der Herr einem unter ihnen das Herz auf, und von so vielen Erweckungen ich auch gehört und gelesen habe, keine hat mich je tiefer bewegt. Das macht, weil sich alles so schlicht und einfach gab. Matthäus Stach, der wohl sah, daß sein Wort auf guten Boden fiel, sprach immer eindringlicher, und als er eben Christi Leiden am Ölberg geschildert hatte, da trat ein Grönländer an den Tisch und sagte mit lauter und bewegter Stimme, in der schon das Heil zitterte: ›Wie war das? Ich will das noch einmal hören.‹ Diese Worte gingen uns, die wir sie mithörten, durch Mark und Bein, und sie sind in Neu-Herrnhut unvergessen geblieben. Von der Stunde an war der Segen Gottes über unserem Tun.«
»Es konnte nicht wohl anders sein. Solche Worte verklingen nicht. Empfind' ich doch in diesem Augenblick noch ihre Wirkung.«
Tante Schorlemmer küßte Renatens Stirn und fuhr dann fort: »Eine Woche verging, und der Grönländertrupp war immer noch in unserer Kolonie. Dann aber brachen sie auf, um weiter nördlich ihren Jagden nachzugehen, und nur Kajarnak blieb zurück; mit ihm seine beiden Schwäger samt ihren Frauen und Kindern, alles in allem vierzehn Personen. Wir lobten ihr Bleiben und hatten Betstunde mit ihnen. Die Kinder empfingen Unterricht, was sehr schwer war, da die Grönländer das, was wir Erziehung nennen, gar nicht kennen. Sie lieben nämlich ihre Kinder mit äffischer Zärtlichkeit und lassen sie aufwachsen, ohne Gehorsam zu fordern oder Ungehorsam zu strafen. Als ein halbes Jahr um war, stellte Matthäus Stach die Frage, ob es Zeit sei, die nun Vorbereiteten zu taufen; aber mein guter Schorlemmer, der den Unterricht geleitet hatte, meinte doch, daß es ihm geboten scheine, noch zu warten. Und so geschah es. Erst am zweiten Ostertage wurden vier Angehörige dieser grönländischen Erstlingsfamilie von der Macht der Finsternis losgerissen; Kajarnak erhielt den Namen Samuel, seine Frau wurde Anna, sein Sohn Matthäus, seine Tochter Anna genannt. Darüber war große Freude in der Kolonie. Aber die Freude sollte nicht lange währen. Vier Wochen später kam Nachricht, daß der ältere Schwager, der sich auf kurze Zeit von uns entfernt und einem Jagdzuge nach dem Norden angeschlossen hatte, auf eine hinterlistige und grausame Weise ermordet worden sei, weil er den Sohn eines heidnisch gebliebenen Grönländers mit Christensprüchen totgehext habe. Zugleich wurde hinzugesetzt, daß die Angekoks in einer großen Verschwörung seien, um auch dem jüngeren Schwager Kajarnaks dasselbe Los zu bereiten. Da bemächtigte sich unserer kleinen grönländischen Gemeinde, sowohl der Getauften wie derer, die noch in Vorbereitung waren, ein Zittern und Zagen, und sie beschlossen, in den Süden zurückzukehren, wo sie unter ihren Verwandten sicherer zu sein hofften. Ach, wir mußten sie ziehen lassen, so schwer es uns auch wurde, und ich sehe noch Kajarnak, wie er bitterlich weinte und immer wieder uns Festigkeit gelobte und sich dann losriß; und wie dann die Schlitten in langer Linie an uns vorüberfuhren, über Fiskenäs und Frederikshaab auf den Süden zu.«
»Und hielt er Wort?«
»Wir hatten wenig Hoffnung, denn es war ein neuer Abfall über die Gemüter gekommen, und selbst solche, die sich in unserer Nähe hielten, gehorchten wieder den Angekoks. Wir waren betrübten Gemütes, auch ich, die ich nach meiner schwachen Kraft all die Zeit über meinem guten Schorlemmer getreulich zur Seite gestanden hatte. Ein Jahr verging, ohne daß Kunde von Kajarnak gekommen wäre, am wenigsten er selbst. Da feierten wir, es war am Johannistag, die Hochzeit von Anna Stach und Friedrich Böhnisch, und als wir bei unserem Mahl waren und erbauliche Lieder sangen, die, was dich vielleicht verwundern wird, von drei Violinen und einer Flöte begleitet wurden, da trat Kajarnak in den Brüdersaal und begrüßte uns. Die Freude war so groß, daß wie von selber aus dem Hochzeitsfest ein Fest des Wiedersehens wurde. Wir hatten ja unsern verlornen Sohn wieder oder doch den, den wir schon als einen solchen betrachtet hatten. Und nun mußte Kajarnak erzählen, alles Große und Kleine, und wie die Seinen ihn aufgenommen hätten. Er verschwieg uns nichts. Sie hätten ihn anfangs oft und mit sichtlichem Vergnügen angehört; als sie dann aber seines Wortes überdrüssig geworden wären, habe er sich in die Stille begeben und seine Erbauung allein gehabt. Zuletzt habe es ihn sehr verlangt, wieder bei uns, seinen Brüdern, zu sein, immer mehr und mehr, bis ihm die Sehnsucht nicht Ruhe und Rast gelassen habe; und da sei er nun. Mein guter Schorlemmer, der ihn so recht eigentlich in das Heil eingeführt hatte, weinte vor Freuden, und Friedrich Böhnisch sagte, das sei ihm eine unvergeßliche Stunde und sein Ehrentag habe nun eine doppelte Weihe.«
»Das durft' er sagen. Es war ein Hochzeitstag, wie ihn sich jeder wünschen mag! Mir würde dieses Wiedersehen ein Zeichen froher Vorbedeutung gewesen sein.«
»Und das war es auch. Das junge Paar wurde glücklich. Auch Kajarnak. Aber seine Tage waren gezählt. Ich glaube fast, daß er sich in seiner Treue nicht genug tun konnte und daß er sich (er war nur von schwachem Körper) in seinem Eifer übernahm. So wurd' er denn von einem heftigen Lungen- und Seitenstechen befallen, das seinem Leben rasch ein Ende machte. In den größten Schmerzen bewies er ein gesetztes Wesen, und wenn die Seinigen anfingen, um ihn zu weinen, sagte er: ›Betrübet euch nicht. Ihr wisset, daß ich von euch der erste gewesen bin, der sich zu dem Sohne Gottes bekehrt hat, und nun ist es sein Wille, daß ich der erste sein soll, der zu ihm kommt. Wenn ihr ihm treu seid, so werden wir uns wiedersehen und uns über die Gnade, die er an uns getan hat, ewiglich freuen.‹ Danach schlief er ein, während unsere Gebete seine scheidende Seele dem Erbarmer empfahlen. Seine Frau bestand darauf, daß er nicht nach Landessitte, sondern nach christlicher Weise begraben würde. Und so geschah es. Nicht nur die Brüder und ihre Angehörigen, auch die Kaufleute von der Kolonie fanden sich zu seinem Begräbnis ein, mit dem unser neuer Gottesacker eingeweiht wurde. Die Grönländer wunderten sich über alles, was sie sahen; unseren Brüdern aber ging dieser Tod sehr nahe. Denn sie verloren viel in ihm: einen erweckten, begabten und gesegneten Zeugen des Evangeliums.
Und da hast du nun meine Geschichte von Kajarnak, dem ersten Getauften.«
Renate ergriff die Hand ihrer alten Freundin und sagte: »Ach wie ich dir danke, liebe Schorlemmer. Es ist nun alle Furcht wie verflogen, und ich fühle mich, als hätt' ich nie von Spuk und Gespenstern gehört. Und nun will ich schlafen. Aber sage mir noch erst den Spruch von den vierzehn Engeln. Wir wollen ihn zusammen sprechen:
Abends bei Zubettegehn
Vierzehn Engel bei mir stehn;
Zwei zu Häupten,
Zwei zu Füßen,
Zwei zu meiner rechten Seit',
Zwei zu meiner linken Seit',
Zwei, die mich decken,
Zwei, die mich strecken,
Zwei, die führen mich sogleich
In das liebe Himmelreich.«
Sie schwiegen eine Weile. Dann sagte Renate: »Und nun geh. Ich habe ja nun Schutz. Laß nur die Seitentür auf, daß mich Maline hört.«
»Gute Nacht, Renatchen!«
»Gute Nacht, liebe Schorlemmer!«