Vor dem Sturm. Vierter Band. Sechstes Kapitel. by Theodor Fontane Lyrics
Sechstes Kapitel
Ein Deserteur
Um dieselbe Stunde, wo Seidentopf und die Frauen im Herrenhause plauderten, plauderten auch die Bauern im Hohen-Vietzer Krug. Es waren unsere alten Freunde vom ersten Weihnachtsfeiertage her: Kümmritz und »Sahnepott«, und Krull und Reetzke; aber auch Miekley, der damals den Diskurs über Tiegel-Schultze und den Schwedter Markgrafen durch sein spätes Erscheinen unterbrochen hatte, hatte heute schon seinen Platz am Tische. Der alte Scharwenka ging wie gewöhnlich auf und ab und machte den Wirt, während Schulze Kniehase dem Fenster zu saß, wo der Küstriner Anzeiger und die beiden berlinschen Zeitungen lagen.
Es traf sich, daß heute Bauer Reetzke, der sonst mit Krull um die Wette schwieg, das Wort führte. Denn er war den Tag vorher in Küstrin gewesen, wohin er, der Verproviantierung der Festung halber, ein Fuder Oderbruchheu abzuliefern gehabt hatte. Sein Bericht reichte zwei Tage weiter als der des Pastors.
»Sie verproviantieren sich also«, sagte Sahnepott. »Laß hören, Reetzke, wie steht es damit?«
»Je nachdem«, sagte dieser. »Alle Speicher sind voll, aber mit dem Schlachtvieh steht es schlecht. Das liebe Vieh hält nicht mehr bei ihnen aus und läuft ihnen weg. Vorletzte Nacht hundertundsiebzig Stück, alle von Tamsel und Quartschen.«
»Hundertundsiebzig Stück?« fragte Kümmritz.
»Ja, Kümmritz, wie ich dir sage. Vorgestern hatten sie das Tamseler Vieh zusammengetrieben und vorvorgestern das von Quartschen, und das stand ja nun auf dem ›Gorin‹, keine tausend Schritt vor der Stadt, und war paarweis zusammengekoppelt. Sie hatten es auch eingehürdet, und da, wo der Eingang war, stand eine Schildwacht. Aber nach eins ging der Mond unter, und als es wieder dämmerte und die Ablösung kam, da sahen sie, daß alles Vieh fort war.«
»Wie denn?«
»Es war ein Loch in der Hürde, und das hatte sich das liebe Vieh zunutze gemacht. Erst dachten die Franzosen, die Bauern hätten es heimlich weggetrieben, aber es waren keine Fußstapfen im Schnee, nur Klauenspuren, die bis halben Wegs nach Tamsel gingen. Weiter wagten sich die Franzosen nicht, denn die Russen sind schon bis dicht heran; bei Blumberg haben sie gestern eine Patrouille weggefangen.«
»Das liebe Vieh«, sagte Kümmritz, »das hat so seinen Instinkt und läuft den Franzosen weg, aber die Westfalen bleiben und der alte Füllgraf auch. Und wenn es noch Westfalen wären! Aber es sind Altmärkische, aus der Salzwedeler Gegend und von Stendal. Ich habe selber mit ein paar von ihnen gesprochen. Warum laufen sie nicht weg? Warum desertieren sie nicht?«
»Sie desertieren«, sagte Reetzke. »Vorige Woche vierzehn und diese Woche siebzehn Mann. Aber einen haben sie wieder, einen blutjungen Menschen; sie brachten ihn ein, als ich mit meinem Fuder Heu vor dem großen Magazin hielt.«
»Wer bracht' ihn ein?« fragte Scharwenka und setzte sich mit an den Tisch. »Unsere Neumärker drüben werden doch keinen Deserteur einfangen?«
»Nein«, fuhr Reetzke fort, »die Franzosen brachten ihn ein; sie hatten ihn in der Krampe gefangengenommen. Gestern früh. Wißt ihr denn nichts davon?«
»Nein, wir wissen von nichts. Laß hören, Reetzke«, riefen mehrere durcheinander, und auch Kniehase legte das Blatt aus der Hand.
»Nun«, sagte Reetzke, »es war ja ein Überfall, und die Franzosen mußten Fersengeld geben. Sie haben vier Tote gehabt.«
»Und in der Krampe?« fragte Kniehase, der immer aufmerksamer geworden war. »Und mit den Russen war es?«
»Nein. Mit den Kirch-Göritzern. Handschuhmacher Pfeiffer, der immer den linken Fuß nachzieht und schon anno sechs den einen General in der Drewitzer Heide weggeputzt haben soll – sie konnten es ihm aber nicht beweisen –, der war der Oberste. Es ist ein kräpscher Kerl und schießt gut und war schon dreimal Schützenkönig.«
»Die Kirch-Göritzer!« unterbrach Kümmritz. »Wer das gedacht hätte! Nun aber laß den Handschuhmacher und seinen linken Fuß, und erzähle, was du weißt. Laß dir's nicht so brockenweise herausholen.«
»Nun, die siebzehn gingen also nach Kirch-Göritz und kamen ins Schützenhaus. Und da war ja nun Pfeiffer, der nie was zu tun hat, und steckte sich auch gleich in seine Schützenuniform mit der Medaillenkette und begrüßte sie und lobte sie, denn er kann reden wie ein Daus. Und als sie nun erzählt hatten, von wo sie desertiert wären und daß jeden Morgen zwanzig Mann in die Krampe müßten, um den Werft für die Faschinen zu schneiden, da sagte Pfeiffer: ›Kinder, das gibt einen Coup. Ich war mit bei den Schillschen, und ich versteh' es. Morgen früh also. Wer will mit?‹ Da meldeten sich all die siebzehn Westfalen, denn das mußten sie, wenn sie nicht als schlechte Kerle dastehen wollten, und von den Kirch-Göritzer Schützen traten auch noch elfe vor. Und Pfeiffer war der neunundzwanzigste. So sah er auch gerade aus.«
Die Bauern lachten, denn sie kannten ihn alle.
»Und nu kam ja der andere Morgen, das war gestern früh, und sie schlichen sich dicht an der Oder hin, erst an dem Entenfang und dann an den Pulvermühlen vorbei. Und so kamen sie bis an die Stelle, wo die Franzosen den Werft schnitten, und der Werft stand so hoch und so dicht, daß sie sich einander nicht sehen konnten. Aber an einer Stelle war ein Gang, da drängten sie sich durch, einer hinter dem andern, und nun brachen sie mit Hurra vor, und Pfeiffer schoß ein altes Pistol ab, und die elf Göritzer Schützen gaben eine Salve in den Haufen hinein, daß gleich vier fielen und die andern auf die Festung davonliefen. Jetzt nun die Westfalen hinterher; aber es war Glatteis, und der vorderste Westfälinger, der zwei von den Ausreißern dicht auf der Ferse war, glitt aus und fiel so, daß er nicht gleich wieder aufkonnte. Da drehten sich die zwei nach ihm um und packten ihn und schleppten ihn mit sich fort. Das war der blutjunge Mensch, den ich um die zehnte Stunde einbringen sah. Und da sagt' ich so bei mir, denn ich war neugierig geworden: ›Reetzke‹, sagt' ich, ›du wirst nicht über Manschnow fahren, du fährst über Kirch-Göritz.‹ Und so fuhr ich über Kirch-Göritz. Aber, du mein himmlischer Vater, da war ja nu alles wie besessen, und den Pfeiffer hatten sie mit Punsch und Redensarten ganz toll gemacht. Und der hält sich jetzt für Schill und Blücher all in eins.«
»Das sieht ihm ähnlich«, sagte Kümmritz, »ein Großmaul, das immer genau vorher weiß, wo was zu riskieren ist und wo nich. Schade, daß das junge Blut die Zeche bezahlen muß. Aber so geht es immer: dieser lahme Pfeiffer kriegt den Ruhm, und der arme Westfälinger wird die Kugel vor den Kopf kriegen.«
Sie sprachen noch hin und her, und Sahnepott erschöpfte sich eben in Möglichkeiten, wie der Deserteur in dem Momente, wo er ausglitt, doch vielleicht noch zu retten gewesen wäre, als der junge Scharwenka eintrat, der heute ebenfalls Heu- und Strohlieferungen nach Küstrin hin gehabt hatte. Er trug noch hohe Stiefel, Flausrock und Pelzmütze und begrüßte jeden einzelnen, war aber ersichtlich in großer Erregung.
»Setz dich, Wenzlaff«, sagte der Alte. »Was bringst du? Du siehst nicht aus wie gute Zeitung.«
Der junge Scharwenka fuhr mit der Hand über die Stirn und sagte dann: »Sie haben ihn erschossen; ich stand keine dreißig Schritt davon; sie wollten, daß es jeder sehen sollte.«
»Den Deserteur?« fragten alle.
»So wißt ihr schon davon?«
»Nein. Wir wußten nur, daß sie gestern einen Deserteur eingebracht haben. Reetzke hat uns eben davon erzählt. Aber nun sprich, wie war es?«
Der junge Scharwenka rückte zwischen Krull und Reetzke ein und sagte dann: »Ich hatt' eben abgeliefert, aber den Schein hatt' ich noch nicht, denn der alte Füllgraf war nicht bei Weg', und als ich auf dem Magazin fragte, wie lang es wohl noch dauern könnte, da sagte der Inspektor: die vierte Stunde würde wohl herankommen oder auch noch mehr. Und dabei schlug die Schloßuhr eben erst zwölf. Aber was war zu machen, und so sagt' ich zu Mathissen: ›Na, Mathis, denn helpt et nich; wie möten utspann'n. Du weetst ja, bi Kerkow'n upp'n Kietz. Föhr man ümmer vörut. Ick kumm glieks na'h.‹ Denn ich mußte noch zu Menken mit heran wegen dem Kirschfaß. Und dann ging ich über die Brücke. Und ich war noch keine zehn Minuten in der Ausspannung und stand mit dem alten Kerkow vor seinem Torweg, und die Hühner pickten um uns her, da hörten wir trommeln, Gott, trommeln, wie ich's all mein Lebtag noch nicht gehört habe.«
»Das macht, Wenzlaff«, sagte Kümmritz, »weil du nicht bei den Soldaten gewesen bist. Ich kenn' es. Ein Wirbel und dann alles still und dann wieder ein Wirbel. Es bedeutet nicht viel Gutes.«
Der junge Scharwenka nickte und fuhr fort: »Und nun dauerte es auch gar nicht lange, da kamen sie die Straße herauf. Erst fünf Tambours und ebenso viele Pfeifer; aber die Pfeifer spielten nicht. Und dann kam der junge Mensch. Jott, wie der aussah. Nicht bang und nicht traurig, aber das war es eben, was mir einen Stich ins Herz gab, und als er mich stehen sah und wohl sehen mochte, wie mir das Mitleid in den Augen saß, da nahm er seine kleine Mütze ab und grüßte mich.«
Die Bauern rückten alle näher; man hätt' ein Blatt in der Krugstube fallen hören.
»Und dann kam ja der alte Füllgraf, ein paar Adjutanten neben sich, und den Schluß machte das ganze Bataillon, dasselbige Bataillon, von dem der junge Westfälinger desertiert war. Aber es war nur noch schwach, keine vierhundert Mann. Da sagte der alte Kerkow: ›Kumm, Jungschen-Scharwenka, da möten wi mit dabi sinn.‹ Und ich ging mit.«
»Und doch heißt es: ›Du sollst nicht voll Neugier in deinem Herzen sein und nicht zu den Gaffern stehen‹«, sagte Miekley.
»Doch, Miekley«, warf Kümmritz ein. »Doch, so was muß man sehen; das macht einen Eindruck. Und man hütet sich davor, oder man kriegt auch einen Haß gegen den Feind. Und beides ist gut.«
»Und so ging es denn«, fuhr der junge Scharwenka fort, »immer mit Trommelwirbel bis an die letzten Häuser, und bei Raschmacher Günzel bogen sie links ein aufs freie Feld, da, wo die Reperbahn ist. ›Halt!‹ kommandierte der alte Füllgraf, und dann formierten sie Karree, aber die vierte Seite war offen, und hier war das Grab. Ich stand mit Kerkow zwischen den Pappeln, und wir sahen den Sand, der frisch aufgeworfen auf dem Schnee lag. Und mir zitterte das Herz, denn fünf Mann und ein Sergeant waren jetzt aus dem Karree vorgetreten, und sie verbanden ihm die Augen mit seinem Taschentuch. Ein altes blaues Tuch mit weißen Punkten. Und nun sollt' er niederknien. Aber da mit eins riß er das Tuch wieder ab und trat auf den General zu, der keine zehn Schritt von ihm hielt, und sagte was, was ich nicht hören konnte. Aber ich sah, daß der alte Füllgraf nickte und mit der Hand über seine Augen fuhr. Und da war es, als ob dem jungen Menschen leicht ums Herz geworden wäre, und er stellte sich gerad aufwärts hin und sah lange gen Himmel, wohl eine Minute lang. Und nun war er fertig, und mit der linken Hand, in der er noch das blaue Tuch hielt, schlug er an seine Brust und rief: ›Hierher, Kameraden, hier sitzt das preußische Herz. Feuer!‹ Und die Salve krachte, und im nächsten Augenblicke war alles vorbei. Der alte Füllgraf aber ritt heran und sagte zu dem Kommando: ›Gebt mir das Tuch.‹ Aber der Tote hielt es so fest, daß es Mühe machte. Dann schlossen sie wieder auf und rückten in Sektionen an uns vorbei. Jetzt spielten auch die Pfeifer, und ich merkte wohl, daß es etwas Lustiges sein sollte. Aber mir war nicht lustig ums Herz, als ich so hinterherging. Es war erst ein Uhr, und erst um sechs hab' ich meinen Schein gekriegt. Waren das fünf Stunden!«
Damit legte er den vom alten Füllgraf unterzeichneten Quittungsschein auf den Tisch. Jeder von den Bauern nahm das Blatt und sah nach der Unterschrift. Dann sagte Sahnepott: »Und warum es gerade sein eigenes Bataillon sein mußte! Sie haben ja Franzosen genug. Aber das ist solch französischer Kniff. Immer was Apartes. Und grausam dazu.«
»Sei doch still, Sahnepott«, sagte Kümmritz verdrießlich. »Es kann nicht jeder in die Milchschüssel fallen. Du redst, wie du's verstehst. Apartes! Dummes Zeug. Ein Deserteur wird totgeschossen, das is in der ganzen Welt so. Bei Pirmasens faßten wir auch einen, war auch ein hübscher Junge. Aber was half's ihm? Krieg ist Krieg.«
Miekley wollte Sahnepott zustimmen, Kümmritz aber, der in Erregung war, ließ ihn nicht zu Worte kommen und sagte nur: »Ich will nichts hören, Miekley. Du bist in die Traktätchen gefallen, und das ist das Allerschlimmste. Uhlenhorst will den Krieg abschaffen, aber der Krieg wird Uhlenhorsten abschaffen. Denn wenn wir erst den Krieg haben, dann spricht er vor leeren Bänken. Und das kann jeden Tag kommen. Ich sag' euch, es geht los, und dann wollen wir uns wieder sprechen. Der alte Groß-Quirlsdorfsche hat was vor, und den kenn' ich, mit dem ist schlecht Kirschen pflücken, und Uhlenhorst wird ihn nicht anders machen. Landsturm oder nicht, er liest euch die Kriegsartikel vor, und was nicht standhält bei der Fahne, das kommt vors Kriegsgericht. Und was das bedeutet, das wißt ihr.«
Sahnepott und Miekley schüttelten den Kopf.
»Schüttelt nur; ich sag' euch, es wird ernsthaft; wir erleben was, und hier herum wird es am schlimmsten. Das hab' ich aus der alten Prophezeiung. Wißt ihr, was die sagt? Es werden rote Reiter am Himmel ziehen, und die Menschen werden so rar werden, wie die Störche anno 57 rar waren, wo der große Sturm sie verschlagen hatte, daß man alle fünf Meilen nur einen sah. Und so wie Gott damals seinen Gottesvogel geschlagen hat, so wird er jetzt die Menschen schlagen. Der Frieden aber soll bei Chorinchen geschlossen werden.«
»Ja«, sagte Krull, »ich hab' es auch gelesen letzten Sonntag im Küstrinschen Anzeiger; 's war auf der letzten Seite, wo die kleinen Geschichten stehen und die Rätsel.«
»Und da steht auch heute die Antwort«, sagte Kniehase und trat vom Fenster her an den Mitteltisch heran. »Wollt ihr's hören?«
»Ja«, riefen alle.
»Nun denn: Antwort auf den Klagepropheten in Nummer fünf des Anzeigers.«
»Und was schreibt er?«
»1812 wird viel Schnee fallen, und in Moskau wird ein großes Feuer sein.«
»Der macht sich's bequem«, brummte der alte Scharwenka, »der prophezeit ins Vergangene hinein.«
»1813 aber«, fuhr Kniehase zu lesen fort, »da wird eine Zeit kommen, wie noch keine war auf Erden. Da werden die alten Leute nicht zänkisch und die jungen Mädchen nicht neugierig sein. Die Doktors werden keine Geschichten mehr erzählen, und die Richter nur bei Nacht schlafen. Und man wird nur im Herbst Wein machen. Die Reichen werden menschlich und die Bettler werden fleißig sein. Und alle Leute desselben Standes werden sich untereinander lieben.«
Die Bauern lachten, und Kümmritz sagte: » Auch ein Prophet. Einer, der klagt, und ein anderer, der Spaß macht. Aber welcher ist der rechte?«
»Immer der, der ernst sieht«, meinte Miekley.
»Nein, Miekley«, sagte Kniehase, »immer der, der heiter sieht. Die Welt geht nicht unter und wir auch nicht.«
Alle waren einig, daß Kniehase recht habe, sonst sei es gar kein Leben mehr.
Ein paar von den Bauern schrieben sich noch für ihre Frauen und Töchter die »neue Prophezeiung« ab, Sahnepott aber nahm den jungen Scharwenka beiseite und ließ sich noch von dem Deserteur erzählen. Denn er war derjenige im Kreise, der, weil er der Schwachnervigste war, auch am meisten das romantische Bedürfnis hatte.
Und dann trennten sie sich.
Ein Deserteur
Um dieselbe Stunde, wo Seidentopf und die Frauen im Herrenhause plauderten, plauderten auch die Bauern im Hohen-Vietzer Krug. Es waren unsere alten Freunde vom ersten Weihnachtsfeiertage her: Kümmritz und »Sahnepott«, und Krull und Reetzke; aber auch Miekley, der damals den Diskurs über Tiegel-Schultze und den Schwedter Markgrafen durch sein spätes Erscheinen unterbrochen hatte, hatte heute schon seinen Platz am Tische. Der alte Scharwenka ging wie gewöhnlich auf und ab und machte den Wirt, während Schulze Kniehase dem Fenster zu saß, wo der Küstriner Anzeiger und die beiden berlinschen Zeitungen lagen.
Es traf sich, daß heute Bauer Reetzke, der sonst mit Krull um die Wette schwieg, das Wort führte. Denn er war den Tag vorher in Küstrin gewesen, wohin er, der Verproviantierung der Festung halber, ein Fuder Oderbruchheu abzuliefern gehabt hatte. Sein Bericht reichte zwei Tage weiter als der des Pastors.
»Sie verproviantieren sich also«, sagte Sahnepott. »Laß hören, Reetzke, wie steht es damit?«
»Je nachdem«, sagte dieser. »Alle Speicher sind voll, aber mit dem Schlachtvieh steht es schlecht. Das liebe Vieh hält nicht mehr bei ihnen aus und läuft ihnen weg. Vorletzte Nacht hundertundsiebzig Stück, alle von Tamsel und Quartschen.«
»Hundertundsiebzig Stück?« fragte Kümmritz.
»Ja, Kümmritz, wie ich dir sage. Vorgestern hatten sie das Tamseler Vieh zusammengetrieben und vorvorgestern das von Quartschen, und das stand ja nun auf dem ›Gorin‹, keine tausend Schritt vor der Stadt, und war paarweis zusammengekoppelt. Sie hatten es auch eingehürdet, und da, wo der Eingang war, stand eine Schildwacht. Aber nach eins ging der Mond unter, und als es wieder dämmerte und die Ablösung kam, da sahen sie, daß alles Vieh fort war.«
»Wie denn?«
»Es war ein Loch in der Hürde, und das hatte sich das liebe Vieh zunutze gemacht. Erst dachten die Franzosen, die Bauern hätten es heimlich weggetrieben, aber es waren keine Fußstapfen im Schnee, nur Klauenspuren, die bis halben Wegs nach Tamsel gingen. Weiter wagten sich die Franzosen nicht, denn die Russen sind schon bis dicht heran; bei Blumberg haben sie gestern eine Patrouille weggefangen.«
»Das liebe Vieh«, sagte Kümmritz, »das hat so seinen Instinkt und läuft den Franzosen weg, aber die Westfalen bleiben und der alte Füllgraf auch. Und wenn es noch Westfalen wären! Aber es sind Altmärkische, aus der Salzwedeler Gegend und von Stendal. Ich habe selber mit ein paar von ihnen gesprochen. Warum laufen sie nicht weg? Warum desertieren sie nicht?«
»Sie desertieren«, sagte Reetzke. »Vorige Woche vierzehn und diese Woche siebzehn Mann. Aber einen haben sie wieder, einen blutjungen Menschen; sie brachten ihn ein, als ich mit meinem Fuder Heu vor dem großen Magazin hielt.«
»Wer bracht' ihn ein?« fragte Scharwenka und setzte sich mit an den Tisch. »Unsere Neumärker drüben werden doch keinen Deserteur einfangen?«
»Nein«, fuhr Reetzke fort, »die Franzosen brachten ihn ein; sie hatten ihn in der Krampe gefangengenommen. Gestern früh. Wißt ihr denn nichts davon?«
»Nein, wir wissen von nichts. Laß hören, Reetzke«, riefen mehrere durcheinander, und auch Kniehase legte das Blatt aus der Hand.
»Nun«, sagte Reetzke, »es war ja ein Überfall, und die Franzosen mußten Fersengeld geben. Sie haben vier Tote gehabt.«
»Und in der Krampe?« fragte Kniehase, der immer aufmerksamer geworden war. »Und mit den Russen war es?«
»Nein. Mit den Kirch-Göritzern. Handschuhmacher Pfeiffer, der immer den linken Fuß nachzieht und schon anno sechs den einen General in der Drewitzer Heide weggeputzt haben soll – sie konnten es ihm aber nicht beweisen –, der war der Oberste. Es ist ein kräpscher Kerl und schießt gut und war schon dreimal Schützenkönig.«
»Die Kirch-Göritzer!« unterbrach Kümmritz. »Wer das gedacht hätte! Nun aber laß den Handschuhmacher und seinen linken Fuß, und erzähle, was du weißt. Laß dir's nicht so brockenweise herausholen.«
»Nun, die siebzehn gingen also nach Kirch-Göritz und kamen ins Schützenhaus. Und da war ja nun Pfeiffer, der nie was zu tun hat, und steckte sich auch gleich in seine Schützenuniform mit der Medaillenkette und begrüßte sie und lobte sie, denn er kann reden wie ein Daus. Und als sie nun erzählt hatten, von wo sie desertiert wären und daß jeden Morgen zwanzig Mann in die Krampe müßten, um den Werft für die Faschinen zu schneiden, da sagte Pfeiffer: ›Kinder, das gibt einen Coup. Ich war mit bei den Schillschen, und ich versteh' es. Morgen früh also. Wer will mit?‹ Da meldeten sich all die siebzehn Westfalen, denn das mußten sie, wenn sie nicht als schlechte Kerle dastehen wollten, und von den Kirch-Göritzer Schützen traten auch noch elfe vor. Und Pfeiffer war der neunundzwanzigste. So sah er auch gerade aus.«
Die Bauern lachten, denn sie kannten ihn alle.
»Und nu kam ja der andere Morgen, das war gestern früh, und sie schlichen sich dicht an der Oder hin, erst an dem Entenfang und dann an den Pulvermühlen vorbei. Und so kamen sie bis an die Stelle, wo die Franzosen den Werft schnitten, und der Werft stand so hoch und so dicht, daß sie sich einander nicht sehen konnten. Aber an einer Stelle war ein Gang, da drängten sie sich durch, einer hinter dem andern, und nun brachen sie mit Hurra vor, und Pfeiffer schoß ein altes Pistol ab, und die elf Göritzer Schützen gaben eine Salve in den Haufen hinein, daß gleich vier fielen und die andern auf die Festung davonliefen. Jetzt nun die Westfalen hinterher; aber es war Glatteis, und der vorderste Westfälinger, der zwei von den Ausreißern dicht auf der Ferse war, glitt aus und fiel so, daß er nicht gleich wieder aufkonnte. Da drehten sich die zwei nach ihm um und packten ihn und schleppten ihn mit sich fort. Das war der blutjunge Mensch, den ich um die zehnte Stunde einbringen sah. Und da sagt' ich so bei mir, denn ich war neugierig geworden: ›Reetzke‹, sagt' ich, ›du wirst nicht über Manschnow fahren, du fährst über Kirch-Göritz.‹ Und so fuhr ich über Kirch-Göritz. Aber, du mein himmlischer Vater, da war ja nu alles wie besessen, und den Pfeiffer hatten sie mit Punsch und Redensarten ganz toll gemacht. Und der hält sich jetzt für Schill und Blücher all in eins.«
»Das sieht ihm ähnlich«, sagte Kümmritz, »ein Großmaul, das immer genau vorher weiß, wo was zu riskieren ist und wo nich. Schade, daß das junge Blut die Zeche bezahlen muß. Aber so geht es immer: dieser lahme Pfeiffer kriegt den Ruhm, und der arme Westfälinger wird die Kugel vor den Kopf kriegen.«
Sie sprachen noch hin und her, und Sahnepott erschöpfte sich eben in Möglichkeiten, wie der Deserteur in dem Momente, wo er ausglitt, doch vielleicht noch zu retten gewesen wäre, als der junge Scharwenka eintrat, der heute ebenfalls Heu- und Strohlieferungen nach Küstrin hin gehabt hatte. Er trug noch hohe Stiefel, Flausrock und Pelzmütze und begrüßte jeden einzelnen, war aber ersichtlich in großer Erregung.
»Setz dich, Wenzlaff«, sagte der Alte. »Was bringst du? Du siehst nicht aus wie gute Zeitung.«
Der junge Scharwenka fuhr mit der Hand über die Stirn und sagte dann: »Sie haben ihn erschossen; ich stand keine dreißig Schritt davon; sie wollten, daß es jeder sehen sollte.«
»Den Deserteur?« fragten alle.
»So wißt ihr schon davon?«
»Nein. Wir wußten nur, daß sie gestern einen Deserteur eingebracht haben. Reetzke hat uns eben davon erzählt. Aber nun sprich, wie war es?«
Der junge Scharwenka rückte zwischen Krull und Reetzke ein und sagte dann: »Ich hatt' eben abgeliefert, aber den Schein hatt' ich noch nicht, denn der alte Füllgraf war nicht bei Weg', und als ich auf dem Magazin fragte, wie lang es wohl noch dauern könnte, da sagte der Inspektor: die vierte Stunde würde wohl herankommen oder auch noch mehr. Und dabei schlug die Schloßuhr eben erst zwölf. Aber was war zu machen, und so sagt' ich zu Mathissen: ›Na, Mathis, denn helpt et nich; wie möten utspann'n. Du weetst ja, bi Kerkow'n upp'n Kietz. Föhr man ümmer vörut. Ick kumm glieks na'h.‹ Denn ich mußte noch zu Menken mit heran wegen dem Kirschfaß. Und dann ging ich über die Brücke. Und ich war noch keine zehn Minuten in der Ausspannung und stand mit dem alten Kerkow vor seinem Torweg, und die Hühner pickten um uns her, da hörten wir trommeln, Gott, trommeln, wie ich's all mein Lebtag noch nicht gehört habe.«
»Das macht, Wenzlaff«, sagte Kümmritz, »weil du nicht bei den Soldaten gewesen bist. Ich kenn' es. Ein Wirbel und dann alles still und dann wieder ein Wirbel. Es bedeutet nicht viel Gutes.«
Der junge Scharwenka nickte und fuhr fort: »Und nun dauerte es auch gar nicht lange, da kamen sie die Straße herauf. Erst fünf Tambours und ebenso viele Pfeifer; aber die Pfeifer spielten nicht. Und dann kam der junge Mensch. Jott, wie der aussah. Nicht bang und nicht traurig, aber das war es eben, was mir einen Stich ins Herz gab, und als er mich stehen sah und wohl sehen mochte, wie mir das Mitleid in den Augen saß, da nahm er seine kleine Mütze ab und grüßte mich.«
Die Bauern rückten alle näher; man hätt' ein Blatt in der Krugstube fallen hören.
»Und dann kam ja der alte Füllgraf, ein paar Adjutanten neben sich, und den Schluß machte das ganze Bataillon, dasselbige Bataillon, von dem der junge Westfälinger desertiert war. Aber es war nur noch schwach, keine vierhundert Mann. Da sagte der alte Kerkow: ›Kumm, Jungschen-Scharwenka, da möten wi mit dabi sinn.‹ Und ich ging mit.«
»Und doch heißt es: ›Du sollst nicht voll Neugier in deinem Herzen sein und nicht zu den Gaffern stehen‹«, sagte Miekley.
»Doch, Miekley«, warf Kümmritz ein. »Doch, so was muß man sehen; das macht einen Eindruck. Und man hütet sich davor, oder man kriegt auch einen Haß gegen den Feind. Und beides ist gut.«
»Und so ging es denn«, fuhr der junge Scharwenka fort, »immer mit Trommelwirbel bis an die letzten Häuser, und bei Raschmacher Günzel bogen sie links ein aufs freie Feld, da, wo die Reperbahn ist. ›Halt!‹ kommandierte der alte Füllgraf, und dann formierten sie Karree, aber die vierte Seite war offen, und hier war das Grab. Ich stand mit Kerkow zwischen den Pappeln, und wir sahen den Sand, der frisch aufgeworfen auf dem Schnee lag. Und mir zitterte das Herz, denn fünf Mann und ein Sergeant waren jetzt aus dem Karree vorgetreten, und sie verbanden ihm die Augen mit seinem Taschentuch. Ein altes blaues Tuch mit weißen Punkten. Und nun sollt' er niederknien. Aber da mit eins riß er das Tuch wieder ab und trat auf den General zu, der keine zehn Schritt von ihm hielt, und sagte was, was ich nicht hören konnte. Aber ich sah, daß der alte Füllgraf nickte und mit der Hand über seine Augen fuhr. Und da war es, als ob dem jungen Menschen leicht ums Herz geworden wäre, und er stellte sich gerad aufwärts hin und sah lange gen Himmel, wohl eine Minute lang. Und nun war er fertig, und mit der linken Hand, in der er noch das blaue Tuch hielt, schlug er an seine Brust und rief: ›Hierher, Kameraden, hier sitzt das preußische Herz. Feuer!‹ Und die Salve krachte, und im nächsten Augenblicke war alles vorbei. Der alte Füllgraf aber ritt heran und sagte zu dem Kommando: ›Gebt mir das Tuch.‹ Aber der Tote hielt es so fest, daß es Mühe machte. Dann schlossen sie wieder auf und rückten in Sektionen an uns vorbei. Jetzt spielten auch die Pfeifer, und ich merkte wohl, daß es etwas Lustiges sein sollte. Aber mir war nicht lustig ums Herz, als ich so hinterherging. Es war erst ein Uhr, und erst um sechs hab' ich meinen Schein gekriegt. Waren das fünf Stunden!«
Damit legte er den vom alten Füllgraf unterzeichneten Quittungsschein auf den Tisch. Jeder von den Bauern nahm das Blatt und sah nach der Unterschrift. Dann sagte Sahnepott: »Und warum es gerade sein eigenes Bataillon sein mußte! Sie haben ja Franzosen genug. Aber das ist solch französischer Kniff. Immer was Apartes. Und grausam dazu.«
»Sei doch still, Sahnepott«, sagte Kümmritz verdrießlich. »Es kann nicht jeder in die Milchschüssel fallen. Du redst, wie du's verstehst. Apartes! Dummes Zeug. Ein Deserteur wird totgeschossen, das is in der ganzen Welt so. Bei Pirmasens faßten wir auch einen, war auch ein hübscher Junge. Aber was half's ihm? Krieg ist Krieg.«
Miekley wollte Sahnepott zustimmen, Kümmritz aber, der in Erregung war, ließ ihn nicht zu Worte kommen und sagte nur: »Ich will nichts hören, Miekley. Du bist in die Traktätchen gefallen, und das ist das Allerschlimmste. Uhlenhorst will den Krieg abschaffen, aber der Krieg wird Uhlenhorsten abschaffen. Denn wenn wir erst den Krieg haben, dann spricht er vor leeren Bänken. Und das kann jeden Tag kommen. Ich sag' euch, es geht los, und dann wollen wir uns wieder sprechen. Der alte Groß-Quirlsdorfsche hat was vor, und den kenn' ich, mit dem ist schlecht Kirschen pflücken, und Uhlenhorst wird ihn nicht anders machen. Landsturm oder nicht, er liest euch die Kriegsartikel vor, und was nicht standhält bei der Fahne, das kommt vors Kriegsgericht. Und was das bedeutet, das wißt ihr.«
Sahnepott und Miekley schüttelten den Kopf.
»Schüttelt nur; ich sag' euch, es wird ernsthaft; wir erleben was, und hier herum wird es am schlimmsten. Das hab' ich aus der alten Prophezeiung. Wißt ihr, was die sagt? Es werden rote Reiter am Himmel ziehen, und die Menschen werden so rar werden, wie die Störche anno 57 rar waren, wo der große Sturm sie verschlagen hatte, daß man alle fünf Meilen nur einen sah. Und so wie Gott damals seinen Gottesvogel geschlagen hat, so wird er jetzt die Menschen schlagen. Der Frieden aber soll bei Chorinchen geschlossen werden.«
»Ja«, sagte Krull, »ich hab' es auch gelesen letzten Sonntag im Küstrinschen Anzeiger; 's war auf der letzten Seite, wo die kleinen Geschichten stehen und die Rätsel.«
»Und da steht auch heute die Antwort«, sagte Kniehase und trat vom Fenster her an den Mitteltisch heran. »Wollt ihr's hören?«
»Ja«, riefen alle.
»Nun denn: Antwort auf den Klagepropheten in Nummer fünf des Anzeigers.«
»Und was schreibt er?«
»1812 wird viel Schnee fallen, und in Moskau wird ein großes Feuer sein.«
»Der macht sich's bequem«, brummte der alte Scharwenka, »der prophezeit ins Vergangene hinein.«
»1813 aber«, fuhr Kniehase zu lesen fort, »da wird eine Zeit kommen, wie noch keine war auf Erden. Da werden die alten Leute nicht zänkisch und die jungen Mädchen nicht neugierig sein. Die Doktors werden keine Geschichten mehr erzählen, und die Richter nur bei Nacht schlafen. Und man wird nur im Herbst Wein machen. Die Reichen werden menschlich und die Bettler werden fleißig sein. Und alle Leute desselben Standes werden sich untereinander lieben.«
Die Bauern lachten, und Kümmritz sagte: » Auch ein Prophet. Einer, der klagt, und ein anderer, der Spaß macht. Aber welcher ist der rechte?«
»Immer der, der ernst sieht«, meinte Miekley.
»Nein, Miekley«, sagte Kniehase, »immer der, der heiter sieht. Die Welt geht nicht unter und wir auch nicht.«
Alle waren einig, daß Kniehase recht habe, sonst sei es gar kein Leben mehr.
Ein paar von den Bauern schrieben sich noch für ihre Frauen und Töchter die »neue Prophezeiung« ab, Sahnepott aber nahm den jungen Scharwenka beiseite und ließ sich noch von dem Deserteur erzählen. Denn er war derjenige im Kreise, der, weil er der Schwachnervigste war, auch am meisten das romantische Bedürfnis hatte.
Und dann trennten sie sich.