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Vor dem Sturm. Vierter Band. Dreiundzwanzigstes Kapitel. by Theodor Fontane Lyrics

Genre: misc | Year: 2015

            Dreiundzwanzigstes Kapitel
                      Die Befreiung

    Um dieselbe Zeit, wo Lewin diese Worte sprach, hielten zwei Schlitten vor dem Hohen-Vietzer Herrenhause. Der vorderste war eine bloße Schleife und sah dem Planschlitten ähnlich, in dem Lewin am Weihnachtsheiligabend seine Fahrt von Berlin nach Hohen-Vietz gemacht hatte, nur daß die Korbwände niedriger waren und der hohe Planbogen völlig fehlte. Statt dieses Planbogens war ein Stück schwarze, nach beiden Seiten hin tief herabhängende Wachsleinwand über den Wagenkorb gelegt und mittels eingeschnittener Löcher an den vier Speichen befestigt worden. In der Gabeldeichsel ging ein kleines, struppiges Bauernpferd, und Pachaly, die Leinen in der Hand, saß auf dem Vorderbrett. Das zweite Gefährt war ein gewöhnlicher, aber sehr großer Fahrschlitten, den man sich, um ebendieser Größe willen, von Schulze Kniehase geborgt hatte. In diesem Schlitten saßen sechs Personen: Berndt und Hirschfeldt im Fond, ihnen gegenüber auf dem Rücksitze Tubal und Kniehase, vorne Krist und der junge Scharwenka. Krist fuhr. Die Ponies waren eingespannt, aber ohne Geläut.

    Was am meisten überraschen durfte, war, daß Bamme fehlte, und doch war ebendieses Fehlen für jeden, der ihn genauer kannte, in voller Übereinstimmung mit seinem Charakter. Die Frankfurter Affäre hatte weder innerlich seinen Mut gebrochen, noch ihn äußerlich kleinlaut gemacht; aber durch und durch von Spielervorstellungen beherrscht, erging er sich seitdem in Versicherungen, daß er keine »glückliche Hand« habe. »Ohne ihn werd' es besser gehen«, versicherte er einmal über das andere, und nur einen Augenblick lang, als der Schlitten mit der herabhängenden schwarzen Wachsleinwand vorgefahren war, war er in dieser seiner Überzeugung erschüttert worden. Und dabei hatte folgendes Zwiegespräch zwischen ihm und seinem neben ihm stehenden Aide de Camp stattgefunden.

    »Was will nur der schwarze Kasten, Hirschfeldt? Schwarz und schräg und eine Zudecke darüber. Der reine Sarg. Soll mich wundern, wen sie hineinlegen werden.«

    »Vielleicht mich.«

    »Nein, Sie nicht, Hirschfeldt. Sie werden immer mit einem Prellschuß oder einer Kugel ins dicke Fleisch davonkommen... Aber was ist das nur, was dieser Tölpel von Pachaly da heranschleppt und in das Schlittenstroh hineinpackt? Sehen Sie nur: ›sechs Bretter und zwei Brettchen‹. Und jetzt zwei Grabscheite und eine Strickleine. Was die soll, weiß ich allenfalls, aber all das andere! Grabscheite und Bretter, und gerade sechs. Es schmeckt so nach Begräbnis.«

    Hirschfeldt, so kaltblütig er war, war doch schließlich durch diese Betrachtungen in eine wenig erbauliche Stimmung versetzt worden, und nur um etwas zu sagen, warf er hin: »Sie sind abergläubisch, General.«

    »Ja, das bin ich, Hirschfeldt, und ich habe meine Freude daran. Nehmen Sie mir das bißchen Aberglauben, so hab' ich gar nichts und falle zusammen. Übrigens geht es den meisten Menschen so, und wem es nicht so geht, desto schlimmer. Sehen Sie die Schorlemmer. Die hat keinen Aberglauben. Aber was kommt dabei heraus? Eine Nußschale voll Weisheit und ein Scheffel Langeweile. Und eine Dormeuse darüber gestülpt.«

    Bamme drehte sich seinen Schnurrbart und hatte das Gefühl, etwas apart Gutes gesagt zu haben. Aber seine ganze Oratio pro domo war von Hirschfeldt überhört worden, der mit seinen Vorstellungen immer noch bei »Sarg« und »Begräbnis« aushielt und endlich sagte: »So glauben Sie, General, daß wir von Küstrin her nicht viel anders heimkehren werden als von Frankfurt?«

    »Doch, Hirschfeldt. Ich bin nicht mit dabei, das ist eins; und das zweite ist, sie passen nicht auf. Ich meine die Franzosen. Ihr werdet ihn also freikriegen; aber einen Einsatz kostet's, ein Bein oder ein paar Rippen. Billiger habt ihr's nicht. Vielleicht aber teurer. Und deshalb gefällt mir der Kasten nicht.«
    So war das Gespräch zwischen Bamme und Hirschfeldt verlaufen; unmittelbar darauf hatten alle an der Expedition Teilnehmenden ihre Plätze eingenommen und fuhren in leichtem Trabe die Küstriner Chaussee hinauf. Als sie bis an die Stelle gekommen waren, wo vor zwei Tagen erst die »Revue« stattgefunden hatte, bogen sie nach rechts hin ab, passierten das Fichtenwäldchen an seinem nördlichen Rande und hielten sich nun scharf auf den Fluß zu. Die Wege waren hier schmal und meist verschneit, so daß sie Schritt fahren mußten. Und doch waren die Minuten berechnet. Berndt und Hirschfeldt wurden ungeduldig. Endlich hatten sie den Fluß vor sich, erkannten trotz der Dunkelheit die inmitten des Eises abgesteckte Fahrstraße und fuhren vorsichtig erst die Böschung hinunter und dann mit einer allmählichen Linksbiegung in die niedrige Kusselallee hinein. Und nun konnten sie wieder traben. Es war aber auch hohe Zeit.

    Noch war kein Wort gesprochen worden. Berndt, den das Schweigen bedrückte, wandte sich an den ihm gegenübersitzenden Kniehase, dessen noch verbundener Kopf in einer Pelzkappe steckte, und sagte:

    »Alles in Ordnung, Kniehase?«

    »Ja, gnäd'ger Herr.«

    »Strick, Scheite, Bretter?«

    »Alles da. Hab' es Pachaly'n in die Hand gezählt. Und auch die kleine Leiter und zwei Bund Stroh.«

    »Und Kümmritz?«

    »Ist um neun Uhr abgerückt auf die Manschnower Mühle zu.«

    »Und Krull und Reetzke?«

    »Stehen drüben zwischen Entenfang und Pulvermühlen.«

    »Gut. Und nun komme, was soll.«

    Einen Augenblick schwieg er, und seine Lippen sprachen nur leise vor sich hin. Dann aber, alle Sorge hinter sich werfend, sagte er: »Und nun schärfer zu, Krist, oder wir verpassen's. Sieh, Tubal, alles grau; der Himmel ist mit uns, indem er sich uns verbirgt.«

    Während sie so sprachen, hatten sie sich der Festung bis auf fünfhundert Schritt genähert und in dem Dunkel, das herrschte, stieg ein noch dunklerer Schatten auf: Bastion Brandenburg. Daß ihr Herankommen von dem einen oder andern Wachtposten bemerkt worden wäre, war wenig glaubhaft, denn ihre niedrigen Fuhrwerke fuhren nicht nur im Schutze einer mannshohen, zu beiden Seiten des Weges aufgeschaufelten Schneemauer, sondern auch im Schatten der von zehn Schritt zu zehn Schritt stehenden Kusselpyramiden. Und im Schatten einer solchen hielten jetzt die Schlitten.
    Die kleine Turmuhr, von der Schloßkirche her, schlug halb. Das traf zu; so war es berechnet. Berndt war der erste aus dem Schlitten heraus und schlich sich jetzt über das Eis hin bis an die Festungswerke vor, gerade bis unter den »Weißkopf«. Als er heran war, sah er, daß am Fuße des Bastions alles tiefverschneit war; der Westwind hatte hier ganze Schneeberge zusammengetrieben. Aber so hoch der Schnee lag, so war er doch zu locker und hatte nicht Tiefe genug. Es mußte also nachgeholfen werden. Dazu sollten die mitgenommenen Bretter dienen, mit deren Hilfe man eine der zehn Schritt breiten und halb festgewordenen Schneemauern bis hart an das Bastion vorzuschieben gedachte. Sie traten deshalb an den einspännigen Schlitten heran, den Bamme kurzweg, und vielleicht auch vorahnend, als »Sargschlitten« bezeichnet hatte, und wollten eben die zum Schieben bestimmten Bretter hervorziehen, als sich's in dem darübergepackten Stroh zu regen und zu schütteln begann. Und siehe da, gleich darauf stand Hektor – wohl wissend, daß er viel gewagt habe – verlegen wedelnd an der Seite seines Herrn, verlegen, aber doch auch mit einem Ausdruck von Stolz und Freude, und seine klugen Augen schienen zu sagen: »Hier bin ich; ich, Hektor, Freund meines Freundes Lewin. Ich weiß, daß es ernst wird, und weil ich es weiß, will ich mit dabei sein.«

    Der sich zuerst faßte, war Berndt; er bückte sich nur, um dem Schuldigen mit dem Zeigefinger zu drohen. Als er sich dann wieder aufrichtete, richtete sich auch der Hund auf und legte seine Vorderpfoten auf seines Herrn Schulter; so standen sie und sahen einander an.

    »Pst, Hektor«, flüsterte Berndt und klopfte und streichelte das treue Tier. Dieser aber, als er sich so zu Gnaden angenommen sah, fuhr in leidenschaftlicher Erregung in seines Herrn Bart und Haar umher und nickte und wedelte nur immer, um zu zeigen, daß er alles wohl verstanden habe. Dann endlich ließ er ab von ihm.

    Die Bretter waren inzwischen hervorgezogen worden und wurden nun von der einen Seite her eingestemmt. Aber es wollte mit dem Schieben nicht glücken. Das am Tage durchgesickerte Schneewasser war unten mit der Flußdecke zusammengefroren, und so mußten denn die Spaten herbeigeholt werden, um durch Abstechen das Eis wieder zu lösen. Und nun endlich war es geschehen, und die Masse setzte sich in Bewegung, erst langsam, dann immer rascher, bis sie zuletzt den weichen Schnee beiseitedrängte und am Fuße des Bastions feststand. Was der Westwind höher hinauf an die Schrägwand geweht hatte, das fiel jetzt herab, ein weiches Polster über der Schneemauer bildend. Und nun kletterte der junge Scharwenka, der der Flinkste und Geschickteste war, hinauf und zog die Strickleine nach sich, während sich die vier anderen zu beiden Seiten der Mauer niederkauerten. Krist hielt Hektor am Halsband; Pachaly war bei den Schlitten geblieben.

    Alle sahen erwartungsvoll nach der Uhr. Noch fünf Minuten. In jedem Augenblick konnt' es oben auf dem Schloß zum Schlagen einsetzen.

    Und jetzt schlug es wirklich. Lewin riß das Fenster auf, zählte bis zwölf, und im selben Augenblicke warf er das Knäuel, dessen loses Ende er um die linke Hand geschlungen hatte, mit der Rechten über den Rand des Bastions. Er hörte, wie es aufschlug; und nun wickelte sich's ab. Eine kleine Weile noch, dann sah er, daß sich die dünne Hanfleine zu straffen anfing. Die Strickleine mußte also von den Freunden unten angeknotet worden sein. Und nun begann er mit aller Kraft zu ziehen. Aber eben jetzt kam ein französischer Wachtposten in Sicht, um seinen vorgeschriebenen Weg von Eck zu Eck zu machen. Er war schon dicht heran; hielt er sich in Nähe des Fensters, so ging das Bajonett unter der Leine weg, hielt er sich aber mehr rechts am Rande des Bastions hin, so traf er die Leine. Lewin war schon darauf gefaßt, sie fallen lassen zu müssen, und dann blieb nur noch der Sprung. Aber der Posten schritt, eine Melodie summend, hart an dem Unterbau des Weißkopfs vorbei.

    Das Eck, an dem er wieder kehrtmachen mußte, lag hundertfünfzig Schritt entfernt. Lewin berechnete sich, daß er zwei Minuten habe. Also schnell. Er zog jetzt rascher und heftiger noch als zuvor, und nun hielt er die Strickleine in seinen beiden Händen. Aber wo sie befestigen? Das Fensterkreuz war viel zu morsch, so schlang er sie, da nichts Besseres da war, um den Fuß der Bettstelle und schob diese, um ihr mehr Halt zu geben, bis an den Fensterpfeiler vor. Und nun hinaus. Draußen warf er sich nieder, kroch bis an den Rand des Bastions und packte den Strick. Und nun noch ein kurzes Stoßgebet, und dann vorwärts und hinab! Als er bis über die Mitte war, brach der Bettfuß, an dem oben die Leine befestigt war, ab oder ging aus den Fugen, aber es waren keine sechs Ellen mehr, und so glitt er an der mit Schnee bedeckten Schrägung ohne Fährlichkeit hinunter. Die ganze Niederfahrt war nur um ein paar Sekunden beschleunigt worden.

    Er war gerettet, und ein seliges Gefühl wiedergewonnenen Lebens durchdrang ihn, als er sich aus den lockeren Schneemassen herauswühlte. Was noch an Gefahr da war, war keine Gefahr mehr; ein Schuß in die Nacht hinein hatte nicht viel zu bedeuten.

    Und jetzt fiel wirklich der erste Schuß. Ein Hurra unten antwortete; alles schwenkte die Mützen, und Hektor, der sich jetzt rühren durfte, sprang an seinem jungen Herrn in die Höhe und fuhr ihm mit der Zunge liebkosend und freudekeuchend über Hand und Gesicht. »Laß, laß!« Aber ehe er noch gehorchen konnte, krachte von oben her eine ganze Salve in das Dunkel hinein, und der Hund, dessen Liebestreue seinen Herrn gedeckt hatte, brach zusammen. Lewin stand unbeweglich und wußte nicht, was tun; endlich rissen Berndt und Hirschfeldt ihn mit sich fort. Alles stürzte den Schlitten zu, und nur Hektor, zurückgelassen, lag winselnd am Fuße des Bastions.

    »Nein«, rief Tubal, »das soll nicht sein.« Und wieder umkehrend, bückte er sich und lud das treue Tier, das sich vergeblich fortzuschleppen trachtete, auf seine beiden Arme. Aber lange bevor er den nächsten Schlitten erreicht hatte, folgte der ersten Salve eine zweite, und Tubal, unterm Schulterblatt getroffen, taumelte und fiel.

    »Fort, fort!« und zehn Hände griffen zu, und über den Schnee hin, ihn tragend und ziehend, erreichten sie das Pachalysche Gefährt und legten den Schwerverwundeten auf die Strohbündel nieder, Hektor ihm zu Füßen. So ging es zwischen den schwarzen Kusseln hin in die Nacht hinein. An Verfolgung war nicht zu denken. Hätte sie stattgefunden, so wäre man mit Hilfe der aufgestellten Seitenkommandos stark genug gewesen, ihr zu begegnen.


    Als sie bis in Höhe von Gorgast waren, bogen sie rechts aus ihrer Kiefernallee heraus und fuhren langsam die Böschung des Ufers hinauf. Tubal hatte brennenden Durst, und man gab ihm Schnee; so ging es weiter bis an die Manschnower Mühle. Hier wurde der Weg immer holpriger, und Pachaly mußte des Verwundeten halber im Schritt fahren. Der andere Schlitten trabte vorauf.

    Berndt hatte die Leinen genommen. Als er zwischen den Pfeilern der Auffahrt hindurch wollte, scheuten die Ponies, und er sah jetzt, daß Hoppenmarieken auf dem linken Prellstein saß. Sie lehnte sich wie gewöhnlich an ihre Kiepe und hielt den Hakenstock in ihrer Hand. Aber sie salutierte nicht – und rührte sich nicht.