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Vor dem Sturm. Erster Band. Fünfzehntes Kapitel. by Theodor Fontane Lyrics

Genre: misc | Year: 2015

            Fünfzehntes Kapitel
        Schmidt von Werneuchen

    Das letzte einzulösende Pfand, ein Notizbuch, gehörte Renaten, die nunmehr aufgefordert wurde, ein Lied zu singen. Sie war dazu bereit, aber wie immer entstand die Frage: was? Zum Glück lagen auf dem kleinen Birkenmaserklavier allerhand Noten aufgeschichtet, unter denen Renate zu suchen begann. Es waren Liederkompositionen, die, soweit der Text in Betracht kam, mit einer Art von gesellschaftlicher Diplomatie beiden Dichterschulen entnommen waren, die damals in beinahe unmittelbarer Nähe von Hohen-Vietz ihre Geburts-, jedenfalls ihre Pflegestätte hatten. Die eine Schule, vom Lokalstandpunkt aus angesehen, war die Nieder-Barnimsche, die andere die Lebusische, jene, die derb-realistische, durch Pastor Schmidt von Werneuchen, diese, die aristokratisch-romantische, durch Ludwig Tieck und den in Ziebingen ansässigen Mäzenatenkreis der Burgsdorffs und ihrer Freunde vertreten. Zwischen beiden Schulen suchte der Hohen-Vietzer Pfarrherr, der es überhaupt mit Ausnahme der Semnonen zu keiner entschiedenen Parteinahme bringen konnte, nach Möglichkeit zu vermitteln, hatte abwechselnd Worte der Anerkennung für Werneuchen, Worte der Bewunderung für Ziebingen und gab dieser seiner Halbheit, die, sobald es sich um kirchliche Fragen handelte, den Spott Miekleys und Uhlenhorsts herausforderte, auch auf literarischem Gebiete durch Anschaffung heute des Schmidtschen »Kalenders der Musen und Grazien«, morgen des Tieckschen »Zerbino« oder »Phantasus« Ausdruck. Übrigens stammten die Klaviernoten meist noch aus der Zeit der verstorbenen Frau her, die, selbst auf dem Barnim gebürtig, zugleich auch minder abwägend als ihr Eheherr, den Werneuchener Poeten um ein weniges bevorzugt hatte.

    Renate, nachdem sie hin und her geblättert, wählte schließlich, um dem Suchen ein Ende zu machen, einige Pastor Schmidtsche Strophen, die sich an den Freund aller unglücklichen Liebenden richteten, »an den Mond«. Der Überschrift war die Klammerbemerkung hinzugefügt: »Abends elf Uhr am Fenster«.

            So manchen Abend traur' ich hier
            In stummer Liebe Leid;
            In meiner Schwermut blickst du dann
            Mich freundlich durch die Weiden an,
            Daß mich's im Herzen freut.

            Wenn doch, wie du, mein Mädchen mild,
            Wie du so freundlich wär'!
            O such sie, lieber Mondenschein,
            Und schau ihr ernst ins Aug' hinein
            Und mach das Herz ihr schwer.

    Renate, die das Lied in Text und Komposition zu kennen schien, sang es mit großer Sicherheit, aber zugleich auch mit jenem übertriebenen Aufwand von Stimme und Gefühl, wodurch der Vortragende auszudrücken wünscht, daß er über der Sache stehe.
    Dies war den Zuhörern nicht entgangen, von denen die Mehrzahl dieser ironischen Behandlung des Liedes zuzustimmen schien. Nur Seidentopf trat an das Klavier und sagte: »Unser Barnimer Freund scheint vor unserem Lebusischen Fräulein keine Gnade zu finden.«

    »Wie kann er auch«, nahm Renate das Wort; »wie bescheiden er sich stellen mag, er hat die Prätension, ein Poet zu sein, und er ist keiner. Es ist sinnig, sich den Dichter auf einem geflügelten Pferde zu denken, weil es die erste Aufgabe aller Poesie ist, das platt Alltägliche hinter sich zu lassen; und nun frag' ich Sie, teuerster Pastor, auf welchem Pferde, geflügelt oder nicht, sind Sie imstande, sich unsern Schmidt von Werneuchen vorzustellen? Ist es vielleicht

                der weiße königliche Zelter,

            Mit Federbüschen bunt im Winde flatternd,
            Die Brust, wie Schnee, mit blauem Schleier schmückend?«

    »Nein, liebe Renate«, antwortete Seidentopf, »dieser weiße königliche Zelter ist es sicherlich nicht. Die Kreuzzugsjahrhunderte, die drüben bei den Ziebinger Freunden fast nur noch Geltung haben, sind nicht das Zeitalter unseres einfachen und, wie nicht bestritten werden soll, an Haus und Hof gebundenen Schmidt; er ist ganz Gegenwart, ganz Genre, ganz Mark. Er ist so unromantisch wie möglich, aber er ist doch ein Dichter.«

    »Das ist er«, fiel jetzt der Dolgeliner Pastor ein, zu dessen kleinen Eitelkeiten es gehörte, seine Bekanntschaft mit dem Werneuchener Amtsbruder ins rechte Licht zu stellen. Außerdem hatte er den Wunsch, doch endlich auch seinerseits in den Gang der Unterhaltung einzugreifen, und der rechte Augenblick dafür schien ihm gekommen. »Unser viel angefochtener Freund«, fuhr er fort, »ist ein Poet trotz einem; aber ich sehe wohl, unser Fräulein Renate hat zuviel da drüben nach Frankfurt hin verkehrt und ist aus der Barnimer Schule, die so recht eigentlich eine brandenburgische Schule ist, in die neue Lebuser übergegangen, wo sie nur noch spanische Stücke lesen und mit dem Herrn Tieck einen Götzendienst treiben, als hätt' es vor seiner ›mondbeglänzten Zaubernacht‹ noch gar keine Dichtung und noch gar keinen rechten Mond gegeben. Und dieser Hochmut reizt mich, und wiewohlen Dolgelin ein alt-lebusisches Dorf ist, so steh ich doch in dieser Dichterfehde ganz auf Seiten von Nieder-Barnim, und wenn sie mir sagen wollen, daß noch nie so Schönes gedichtet worden ist wie:

            Ihr kleinen goldenen Sterne,
            Ihr bleibt mir ewig ferne,

was sie jetzt auf allen Leiern spielen, so sag' ich: nein, ihr Herren, euer Geschmack ist nicht mein Geschmack, und es fällt mir ganz anders auf die Sinne, wenn unser Werneuchner Freund in seiner drallen Dichterweise anhebt:

            Auf seinem Waldhorn bläst des Dorfes Hägereiter,
            Die Paare treten an, die Augen werden heiter,
            Des Amtmanns Schreiber kommt, die Bauern rufen: Tusch,
            Fort mit den Tischen, itzt beginnt der Kiekebusch!

Das nenn' ich Sprache. Ich sehe den Bräutigam mit der rotkalmankenen Weste und höre, wie sie mit den Hacken zusammenschlagen. Da ist echtes Gold drin, gegen das sich die ›kleinen goldenen Sterne‹ verstecken können.«

    Turgany lachte herzlich. Im übrigen trat eine kleine Verlegenheitspause ein, die Seidentopf endlich – mit geflissentlicher Umgehung des ganzen Intermezzos, als welches die Dolgeliner Verteidigungsrede anzusehen war – unterbrach, indem er sich an seine schöne Widersacherin wendete: »Sie unterschätzen ihn, liebe Renate, wie so viele mit Ihnen tun. Vielleicht, daß ich meinerseits in den entgegengesetzten Fehler verfalle, weil ich die Vorzüge seines Herzens auch in seinen Dichtungen wiederfinde. Man muß ihn eben kennen.«
    »Nun, so lassen Sie uns an Ihrer Kenntnis teilnehmen, erzählen Sie von ihm.«

    »Das muß Turgany tun«, fuhr der Pastor fort, »er hat die Gabe eindringlicher Schilderung, er kennt ihn, er schätzt ihn auch, wenn ich mich früherer Gespräche recht entsinne.«

    Turgany machte zunächst eine ablehnende Handbewegung und setzte dann erklärend hinzu: »Lieber Seidentopf, es muß eine Verwechselung vorliegen, vielleicht mit deinem Amtsbruder Pastor Zabel, den wir soeben in dankbarer Erinnerung an die rotkalmankene Weste sich enthusiasmieren sahen. An ihn wäre dein Appell in der Ordnung gewesen.«

    Aber diese Ablehnung, wie vorauszusehen, war umsonst; alles drang in Turgany, der endlich, wohl oder übel, dem allgemeinen Wunsche nachgeben mußte. Vielleicht nicht ungern. Denn er tat nichts lieber als medisieren. »Nun denn«, so hob er an, »Sie wissen alle, daß unser Werneuchener Freund ein Prediger und Dichter ist, aber was Sie vielleicht nicht wissen und was so recht eigentlich den Schlüssel zum Verständnis seiner Dichtungen bildet, das ist das, daß er auch Gatte und Vater ist. Die Kanzel steht ihm nahe, aber die Wiege steht ihm näher. Sein Haus ist eine Kinderstube, oder wie es hierlandes heißt: mehr Quarre als Pfarre. Versteht sich, ist er kreuzbrav. Er züchtet Bienen und Blumen und lädt seine Gäste statt in Prosa in Versen, meist in Sonetten, ein. Er ist bescheiden und selbstbewußt, nachgiebig und eigensinnig, harmlos und schlau, in Summa ein Märker. Nicht zufrieden damit, für sein eigen Teil der Pastor Schmidt von Werneuchen zu sein, ist sein bester Freund auch noch der Pastor Schultze von Döbritz. Nomen et omen. Er raucht aus langer Pfeife und trägt Käpsel und Schlafrock, und wenn er den letztern ausnahmsweise nicht trägt, so macht er den Eindruck, als trüge er zwei. Unter seinen Dichtungen hat mir die kleine Gruppe, die die Überschrift aufweist: ›Lieder für Landmädchen, abends beim Melken zu singen‹, immer den größten Eindruck gemacht. In einer angefügten Notiz findet sich nämlich die Bemerkung, daß er sie gedichtet habe, um verschlafene Milchmädchen beim Melken wach zu erhalten. Ich bezweifle, daß er seinen Zweck erreicht hat.«

    Seidentopf mühte sich, einen kleinen Unwillen zu zeigen. »Das führt uns nicht weiter, Turgany; du selbst wirst nicht behaupten wollen, in deiner Schilderung auch nur einigermaßen Gerechtigkeit geübt zu haben.«

    »Ich weiß doch nicht«, fiel Lewin hier ein. »Wir kennen alle den lebhaften Farbenauftrag unsers justizrätlichen Freundes, aber, einer gewissen drastischen Ausdrucksweise entkleidet, hat er nichts gesagt, was ich nicht von ganzem Herzen unterschreiben möchte. Diese Werneuchener Poesie hat in der Tat kein anderes Ideal als den bekäpselten Familienvater, und die Abfertigung, die ihr von Weimar her zuteil wurde, war wohlverdient. Es ist wahr, manches glückt ihm. Wie hübsch klingt es:

            Was lieb sich hat mit Treuen,
            Das sucht ein einsam Örtchen gern,
            Wo's heimlich sich kann freuen,
            Von Lärm und Lauschern fern.

            Da hat sich's lieb im stillen,
            So inniglich, so minniglich,
            Da hat es seinen Willen,
            Sein Wesen ganz für sich.

Das ist sinnig; aber daneben liegen Abgründe. Er hat eine gefällige Gabe für den Reim und ein Auge für die Natur. Das ist alles. Seine Schilderungen mögen gelegentlich als Oasen gelten, seine Gedanken sind die Wüste. Sand und wieder Sand. Aber wie denkt nur Marie über ihn? Ich glaube mich zu entsinnen, daß sie seine Lieder mehr als einmal gelesen, auch zu Renate darüber gesprochen hat.«

    Die Angeredete wurde rot bis an die Schläfe. Es konnte nicht wohl anders sein. Lewin, der von manchem Plauderabend her die Schärfe ihres Urteils kannte, übersah, daß es ein größerer Kreis war, vor dem zu sprechen er sie so plötzlich aufgefordert hatte. Sie sammelte sich aber schnell und sagte dann fest und schüchtern zugleich: »Ich gehe ganz mit Renaten; er ist kein Dichter, weil er nichts als die Wirklichkeit kennt.«
    »Und seine Gabe der Schilderung?« unterbrach Seidentopf.

    »Auch sie erquickt mich nicht. Sie ist das Beste an ihm, gewiß, aber les' ich dann: ›bis auf am Himmelsbogen die goldnen Sterne zogen‹, so fühle ich plötzlich den unendlichen Unterschied zwischen diesen Sternen und den Alltagssternen unseres Schmidt. Freilich, ich zweifle, ob ich diesen Unterschied werde aussprechen können.«

    »Du wirst es können; beginne nur«, riefen ihr Lewin und Renate zu.

    »Ich will es versuchen. Der Dichter soll ein Spiegel aller Dinge sein. Schmidt aber spiegelt nichts; er gibt nur die Natur selber.«

    »Gut, gut«, fiel Turgany ein, »ich habe mehr als eine Untersuchung gelesen, die zurückbleibt hinter diesem kritischen Debut. Der Schmidtsche Spiegel, wenn ich recht verstanden, ist gar kein Spiegel, sondern nur ein Spiegelrahmen, und die Bilder, die er gibt, sind nichts anderes als eingefaßte Stücke leibhaftiger Natur. Natur, wie wir sie vor uns haben, wenn wir, zurücktretend, auf drei Schritt Entfernung durch ein offenstehendes Fenster sehen. Sehr gut.«

    Seidentopf, immer unruhiger werdend, wollte antworten; Turgany aber, als merke er nichts von der Verstimmung seines Freundes, fuhr jetzt in der ihm eigenen Weise fort: »Wir haben nun unser Verdikt abgegeben, und Inkulpat, trotz der günstigen, aber als durchaus parteiisch anzusehenden Aussagen seiner Amtsbrüder von Hohen-Vietz und Dolgelin, ist als schuldig befunden worden. Othegravens zustimmendes Kopfnicken, als die ›goldenen Sterne‹ der Bürgerschen Lenore heraufzogen, hab' ich, hoffentlich nicht mit Unrecht, im Sinne der Anti-Schmidt-Partei gedeutet. Ausständig ist nur noch eine gewichtige Stimme. Ich erhebe hiermit die bestimmte Frage: ›wie stellt sich Herrnhut zu Werneuchen?‹«

    Tante Schorlemmer schüttelte den Kopf hin und her und klapperte lebhafter denn zuvor mit ihrem Strickzeug, das sie, nach Auslösung der Pfänder, wieder zur Hand genommen hatte. Sie schien auch jetzt noch jede Antwort verweigern zu wollen.

    Turgany aber, uneingeschüchtert, fuhr in Nachahmung richterlicher Würde fort: »So müssen wir denn zu den stärksten Mitteln greifen. Im Namen Zinzendorfs...«

    Die so feierlich Beschworene, eine der eben abgestrickten Nadeln erhebend, drohte bei dieser Formel scherzhaft zu dem Justizrat hinüber und sagte dann: »Renate und Marie haben recht; er ist garstig.«

    »Er ist garstig«, wiederholte Turgany. »Mit Hülfe dieser verspäteten Zeugenaussage, in der ich beiläufig einen Saxonismus zu erkennen glaube, tritt unsere Verhandlung in eine neue Phase ein. Es scheint sich der ästhetischen Anklage, wenn auch nur leise, ein moralisches Element beigesellen zu sollen.«

    »Das nicht«, fuhr jetzt Tante Schorlemmer mit Entschiedenheit fort, »aber er mißfällt mir ganz und gar. Er mißfällt mir, weil er sein geistlich Kleid ohne geistliche Würde trägt. Der Justizrat hat es getroffen: die Wiege steht ihm näher als die Kanzel. Selbst das heilige Weihnachtsfest ist ihm kein Fest des Kindes Gottes, es ist ihm nur ein Fest seiner eigenen Kinder. Er scheut selbst vor Anstößigkeiten nicht zurück, und ich schäme mich dann in seine Pastorseele hinein. Nein, nein, das ist nichts für ein herrnhutisch Herz, dem noch die Weihnachtslieder der eigenen Kindheit im Ohre klingen.«

    Turgany schwieg. Renate trat an Tante Schorlemmer heran und sagte: »Gib uns das Lied, das du den ersten Weihnachten sangst, als du zu uns gekommen warst. Ich lieb' es so. Bitte, ich sing' auch mit.«

    Tante Schorlemmer strickte eifrig weiter. Dann sagte sie: »Gut, ich will es; sind wir doch hier in einem christlichen Predigerhause.« Damit stand sie auf und setzte sich an das Klavier. Mit zitternder Stimme hob sie an, bis die schöne Altstimme Renates wie eine Glocke einfiel. Leise begleitend klang das Klavier. So sangen sie beide:

            Holder Knabe
            Mit dem Stabe,
            Der die Löwen weiden kann,
            Denk der kleinen
            Armen deinen,
            Der du Jüngling warst und Mann.
            Laß sie weiden
            In den Freuden
            Deiner Kindheit, Jesu Christ!
            Lehr sie stündlich
            Treu und kindlich
            Sein, wie du gewesen bist.

Und damit schloß der zweite Weihnachtstag im Pfarrhause zu Hohen-Vietz.