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Vor dem Sturm. Erster Band. Dreizehntes Kapitel. by Theodor Fontane Lyrics

Genre: misc | Year: 2015

           Dreizehntes Kapitel
             Der Wagen Odins

    Die Stunde vor Tische – nach einem alten Herkommen, von dem übrigens Turgany heute nicht ungern abgegangen wäre – gehörte dem wissenschaftlichen Austausch, will sagen, der Kriegsführung. In dieser kurzen Spanne Zeit wurden jene Schlachten geschlagen, denen der Justizrat mit heiterer Entschlossenheit, der Pastor, bei allem Verlangen danach, doch zugleich mit immer erneutem Bangen entgegensah. Denn so laut er auch die Unerschütterlichkeit seines Systems proklamieren mochte, gerade hinter seinen bestimmtesten Versicherungen barg sich der quälendste Zweifel. Alle Systeme sind gefallen, sagte er zu sich selbst, und vor jeder neuen Debatte beschlich ihn die Vorstellung: wenn nun jetzt dein Bau zusammenstürzte!

    Diese Vorstellung kam ihm auch heute, und das entsprechende Bangen wuchs einen Augenblick, als Turgany, der inzwischen eine kleine Kiste vom Flur hereingeholt hatte, diese mit einer gewissen Feierlichkeit auf den Tisch stellte und einfach die Worte sprach: »Dies ist nun für dich, Seidentopf. Nimm es, so unchristlich sein Inhalt ist, als eine Christbescherung von mir an. Ob du in dir oder außer dir einen Platz dafür finden wirst, steht freilich dahin. Wenn es in dein System paßt, so schmiede Waffen daraus gegen mich; es soll dann mein Stolz sein, dir selbst zum Siege verholfen zu haben. Entgegengesetztenfalls aber habe den Mut eines offenen Bekenntnisses. Und nun öffne.«

    Seidentopf zog den Deckel und nahm aus der Kiste einen kleinen Bronzewagen heraus, der auf drei Rädern lief und eine kurze Gabeldeichsel hatte, auf der, dicht an der Achse, sechs ebenfalls bronzene Vögel saßen, alle von einer Haltung, als ob sie eben auffliegen wollten. Das Ganze, quadratisch gemessen, wenig über handgroß, verriet ebensosehr technisches Geschick wie Sinn für Formenschönheit.

    Der Pastor war geblendet; auf einen Augenblick ging alles, was kritisch oder systematisch an und in ihm war, in der naiven Freude des Sammlers unter, und die Hand des Justizrats ergreifend, sagte er: »Das ist ein Unikum; das wird die Zierde meiner Sammlung.«

    Dann ließ er den Wagen über den Tisch rollen mit einem Gefühl und einem Gesichtsausdruck, als ob er um fünfzig Jahre jünger gewesen wäre.

    Turgany freute sich des Glückes, das er geschaffen; aber rasch wieder von seinem alten Widersachergeist erfaßt, riß er unseren Seidentopf durch ein kurzes »Und nun?« aus seiner Unbefangenheit.

    Der Pastor, zunächst noch in jener weichen Stimmung, wie sie Freude und Dank hervorrufen, versuchte dem inquisitorischen »Und nun?« durch allerhand Zwischenfragen über Erwerb und Fundort auszuweichen. Aber vergeblich. Die letztere Frage griff schon in das kritische Gebiet hinüber, und Turgany bemerkte deshalb mit nachdrücklicher Betonung einzelner Worte: »Er ist von jenseit der Oder; Wegearbeiter fanden ihn zwischen Reppen und Drossen; er steckte im Mergel; Drossen ist wendisch und heißt: ›Stadt am Wege‹. Die Oder war immer Grenzfluß.«

    »Das ist ohne Bedeutung«, bemerkte Seidentopf ruhig. »Du weißt, es gab eine Zeit, wo diesseits und jenseits des Flusses Deutsche wohnten; nur die Stämme waren verschieden. Welche Stämme hüben und drüben, darüber mag gestritten werden; ich betone nur das Germanische überhaupt.«

    Turgany lächelte. »So glaubst du wirklich, daß deine Semnonen oder ihresgleichen, die nachweisbar unter Fichten und Eichen wohnten und sich in Tierfelle kleideten, der Schöpfung solcher Kunstwerke fähig gewesen wären?« Er wies dabei auf den Wagen. »Wie ich dir oft gesagt habe, sie sind hingegangen wie das Laub an ihren Bäumen, wie der Ur, der mit ihnen gemeinschaftlich die Wälder bewohnte. Es ist möglich, daß der Welt die Überraschung vorbehalten ist, hier oder dort, in Moor oder Mergel, einmal einem durch Erdsalze petrifizierten Semnonen zu begegnen; ich würde mich freuen, solchen Fund noch zu erleben, er würde jedoch nach der Seite hin, die hier in Frage kommt, nicht das geringste beweisen. Es gab Semnonen, gewiß, aber sie schufen nichts. Sie pflanzten sich fort, das war alles. Ein Schaffen im Sinne der Kunst, der Erfindung kannten sie nicht. Dieser Wagen ist Produkt höherer Kultur. Wer brachte die Kultur in diese Gegenden? so stellt sich die Frage. Du kennst meine Antwort.«
    Seidentopf schwieg.

    »Ich habe dir so oft gesagt«, fuhr Turgany fort, »und ich muß es wiederholen, es zählt bei mir zu den Unbegreiflichkeiten, daß ein Mann von deinem wissenschaftlichen Ernst, der sich in hundert anderen Stücken durch Vorurteilslosigkeit auszeichnet, die Kultur der slawischen Vorlande bestreiten kann. Dein System ist eine Anhäufung von Sophistereien. Von unserer alten Priegnitz an, in der wir geboren wurden, bis zu diesem Lande Lebus, in dem wir jetzt beide wohnen, tragen sowohl die Landesteile selbst wie ihre Städte und Dörfer, zum ewigen Zeichen dessen, daß sie aus wendischen Händen hervorgingen, gutslawische Namen; in erster Reihe dies alte Hohen-Vietz, dessen Bewohner, neben ihren vielen anderen Tugenden, auch die der Langmut in Stammes- und Rassefragen üben. Ich meinerseits kann ihnen darin nicht folgen. Es bleibt, wie es ist. Die Deutschen dieser Gegenden waren Wilde; sie hatten Menschenopfer, sie schlitzten ihren Feinden die Bäuche mit Feuersteinen auf. Sie aber, die gesitteten Wenden, die du verleugnest, sie hatten Tempel, trugen feine Gespinste und schmückten sich und ihre Götter mit goldenen Spangen. Was hat dein ganzes Semnonentum aufzuweisen, das heranreichte an die sagenhafte Pracht Vinetas, an die phantastische Tempelgröße Rethras und Oregungas?«

    » Sagenhafte Pracht«, wiederholte Seidentopf, »mir könnte das Zugeständnis, das in diesem Beiwort liegt, genügen; indessen ich verzichte gern auf den Gebrauch von Waffen, die mir, verzeihe, eine Unachtsamkeit meines Gegners in die Hand gibt. Und so gedenke ich nicht an der Kultur von Rethra und Julin herumzudeuteln. Aber dieses spätere, unter den Anregungen unserer germanischen Welt über sich selbst hinauswachsende Wendentum ist ein Wendentum dieses Jahrtausends, während dieser bronzene Wagen augenscheinlich bis in die ersten Säkula unserer Zeitrechnung zurückdatiert. Ich setze ihn drittes Jahrhundert, vielleicht noch früher.«

    »Gut. Und wofür hältst du ihn? Was ist er? Was bedeutet er?«

    »Ich hätte es gewünscht, diesen Streit gerade heute, wo ich mich dir so tief verpflichtet fühle, vermieden zu sehen. Da sich dies nicht tun läßt, so nehme ich nicht Anstand, ihn, mit jedem erdenklichen Grade von Bestimmtheit, als ein Symbol des altgermanischen Kultus zu bezeichnen. Er versinnbildlicht nichts anderes als den Wagen Odins.«

    »Du greifst etwas hoch«, setzte jetzt Turgany mit schärfer werdender Stimme ein. »Wie es in den Wald hineinschallt, so schallt es wieder heraus. Und so nehme ich denn nicht Anstand, auch meinerseits mit jedem erdenklichen Grade von Bestimmtheit zu behaupten, daß dies ein Odinswagen etwa mit demselben Rechte ist, wie ein in irgendeinem Mergellager aufgefundenes Wiegenpferd eine sinnbildliche Darstellung der wendischen Sonnenrosse sein würde. Du darfst den Bogen nicht überspannen. Dieser Wagen ist einfach das Kinderspielzeug eines Lutizischen oder Obotritischen Fürstensohnes, irgendeines jugendlichen Pribislaw oder Mistiwoi.«

    Seidentopf wollte antworten, aber Turgany fuhr fort: »Ein Bild heiteren Familienlebens tut sich vor meinen Blicken auf. Holzsäulen mit reichgeschnitzten Kapitälen tragen die phantastisch gezierte Decke, und an den Tischen entlang, bei Würfel und Wein, sitzen die wendischen Schwertmänner, zuoberst der Fürst. Er trinkt auf das Wohl seines einzigen Sohnes, zu dessen Geburtstagsfeier heute die Gäste so zahlreich erschienen sind. Durch die Halle hin, nach rechts und links sich verneigend, schreitet Pribislawa, die Fürstin, und bei jeder grüßenden Bewegung blitzen die goldenen Fransen ihres weißen Gewandes. An ihrer Rechten führt sie den Knaben, dessen Locken unter seiner Otterfellmütze hervorquellen, während hinter ihm her das reiche Spielzeug rollt und rasselt, das dieser Glückstag ihm bescherte. Und dieses Spielzeug ist hier.« Damit hob Turgany den vorgeblichen Odinswagen auf und setzte ihn wieder auf den Tisch.

    Der Pastor lächelte. Auch Turgany, dem im Anschauen seines durch ihn selbst heraufbeschworenen Bildes heiterer ums Herz geworden war, sah wieder ruhiger drein und sagte in versöhnlichem Tone:

    »Seidentopf, ich habe Trumpf gegen Trumpf gesetzt. Du hast mich herausgefordert. Wenn ich, dir folgend, von jedem erdenklichen Grade von Bestimmtheit sprach, so wirst du wissen, was ich damit gemeint habe. Es fehlt uns beiden nur eine Kleinigkeit: ›der Beweis‹.«

    »Ich kann ihn geben.«

    »Wohlan, so gib ihn.«

    »Du gibst zunächst die Bronze zu?«

    Der Justizrat nickte.
    »Du gibst ferner zu, daß die Bronze der germanischen Zeit mit derselben Ausschließlichkeit angehört wie das Eisen der wendischen?«

    Turgany nickte wieder, aber unter Zeichen wachsender Ungeduld.

    »Gut. Dies von deiner Seite zugegeben«, fuhr Seidentopf fort, »scheint mir unser Streit durch dein eigenes Entgegenkommen geschlichtet. Ich danke dir für diesen Akt der Unparteilichkeit und Selbstbeherrschung. Dieser Wagen ist bronzen; und weil er bronzen ist, ist er germanisch. Das ist der Punkt, auf den es ankommt. Was er innerhalb der germanischen Welt war, das ist erst von zweiter Bedeutung. Doch muß ich dabei bleiben, daß auch darüber nicht wohl ein Zweifel sein kann. Hier diese Vögel auf Achse und Gabeldeichsel führen den Beweis. Es sind die Raben Odins. Sie fliegen vor ihm her; wenn ich mich des Ausdrucks bedienen darf, sie ziehen das rätselvolle Gefährt.«

    »Du hältst dies also für Raben?«

    »Der Augenschein überhebt mich jeder weiteren Ausführung«, erwiderte der Pastor.

    »Nun, so erlaube mir die Bemerkung, daß nach meiner ornithologischen Kenntnis, die wenigstens auf dem ganzen, zwischen Fasan und Bekassine liegenden Gebiete der deinigen überlegen ist, diese sogenannten Raben Odins nicht mehr und nicht weniger als alles sein können, was je mit Flügeln schlug, vom Storch und Schwan an bis zum Kernbeißer und Kreuzschnabel. Und so ruf ich dir denn zu: ›Heil diesem Isis- und Osiriswagen, denn sechs Ibis sitzen auf seiner Deichsel, Heil diesem Jupiterwagen, denn sechs Adler fliegen vor ihm her.‹«

    Während dieser Kontroverse hatte die Haushälterin nebenan mit Tellern und Tassen geklappert und die Beine des Ausziehtisches mit jener rücksichtslosen Lautheit eingeschraubt, die seit alter Zeit her das Vorrecht des von seiner Wichtigkeit überzeugten Küchendepartements bildet. Trotz dieses Lärmens indes waren die scharfen Töne Turganys bis in das dahintergelegene Gesellschaftszimmer gedrungen und veranlaßten hier um so rascher einen allgemeinen Aufbruch, als das immer gern gehörte »Zu Tisch« ohnehin jeden Augenblick gesprochen werden konnte. Renate und Marie, die den Zug führten, erschienen auf der Schwelle des Studierzimmers, als der Justizrat eben seine letzten spöttischen Trümpfe ausspielte.

    »Willkommen!« rief Turgany. »Unsere jungen Freundinnen, die Vertreter heiterer Unbefangenheit in diesem Kreise, sollen einen Gerichtshof bilden und zwischen dir und mir entscheiden. Cour d'amour, Sängerstreit; Seidentopf und Turgany in den Schranken.«

    Seidentopf war es zufrieden. Alles versammelte sich um den Tisch, und Renate, den Vorsitz nehmend, forderte die streitenden Parteien auf, ihre Sache zu führen. Turgany sprach zuerst; dann schloß Seidentopf: »Und so spitzt sich denn die Frage einfach dahin zu: ist dieser Wagen ein Gegenstand des Kultus, oder ist es ein bloßer Tand? Wurde andächtig zu ihm aufgeschaut oder wurde mit ihm gespielt? Und nun, ihr Raben Odins, zieht eure Kreise und kündet das rechte Wort.«

    Renate warf einen Blick auf die Streitenden, dann sagte sie: »Welche Blindheit, ihr Freunde, daß ihr den Wald vor Bäumen nicht seht! War je eine Frage leichter zu entscheiden? Wozu das Suchen in dunkler Ferne? Dieser Wagen, von allerdings symbolischer Bedeutung, ist nichts anderes als ein Streitwagen, das zwischen Drossen und Reppen aufgefundene Bild eurer eigenen urewigen Fehde.«

    Alles stimmte heiter zu, und die gemeinschaftlich Verurteilten reichten sich die Hand. Renate aber, den Winken der im Hintergrunde beschäftigten Alten endlich die gebührende Aufmerksamkeit schenkend, nahm jetzt den Arm Seidentopfs und schritt dem Nebenzimmer zu, darin auf gastlich hergerichteter Tafel das Linnen glänzte und die Lichter brannten.