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Vor dem Sturm. Dritter Band. Elftes Kapitel. by Theodor Fontane Lyrics

Genre: misc | Year: 2015

            Elftes Kapitel
                Borodino

    ... Wir glaubten nicht mehr, daß die Russen standhalten würden. Sie zogen sich auf der großen Smolensker Straße zurück, vermieden jedes Rencontre mit unsern Vortruppen und schienen Moskau ohne Schwertstreich preisgeben zu wollen. Es war aber anders beschlossen; auf russischer Seite wechselte der Oberbefehl, Kutusow kam an Barclay de Tollys Stelle, und unserm Einzuge in Moskau ging ein Zusammenstoß voraus, von dem der Kaiser selbst bei hereinbrechender Nacht sagte: »Ich habe heute meine schönste Schlacht geschlagen, aber auch meine schrecklichste.«

    Das war bei Borodino am 7. September.

    Schon der 5. gab uns einen Vorgeschmack. Als wir am Abend dieses Tages ins Biwak rückten, hörten wir, daß in unserer Front ein heftiges Gefecht stattgefunden und die Division Compans, zu der auch das 61. Linienregiment gehörte, eine russische Schanze gestürmt habe. Unmittelbar darauf sei der Kaiser erschienen und habe, die Lücken in dem genannten Regimente wahrnehmend, unruhig gefragt: »Wo ist das dritte Bataillon vom Einundsechzigsten?«, worauf der alte Compans geantwortet habe: »Sire, es liegt in der Schanze.«

    Am 6. hatten wir Gewißheit, daß uns die Russen eine Schlacht bieten würden, und tags darauf standen wir ihnen in aller Frühe schon auf Kanonenschußweite gegenüber.

    Es war ein klarer Tag. Die Sonne, eben aufgegangen, hing wie eine rote Kugel über einem Waldstrich am Horizont und sah auf das kahle Plateau hinunter, das sich, halb Brache, halb Stoppelfeld, in bedeutender Tiefe, aber nur etwa in Breite einer halben Meile vor uns ausdehnte. Die Höhenstellung, auf der wir hielten, erleichterte es mir, mich in dem Terrain zurechtzufinden, und ich erkannte bald, daß das vor uns liegende Plateau keineswegs eine glatte Tenne sei, sondern mehrere kleine Senkungen und Steigungen habe. Namentlich eine dieser Senkungen, allem Anscheine nach ein ausgetrocknetes Flußbett, markierte sich scharf und zog sich, das voraussichtliche Schlachtfeld in zwei Hälften teilend, wie ein Wallgraben zwischen unserer und der feindlichen Stellung hin. Hüben wir, drüben die Russen. Dies ausgetrocknete Flußbett hieß der Semenowskagrund. Wer angriff, mußte diesen Grund passieren, und in der Tat drehte sich die neunstündige Schlacht um den Besitz desselben und dreier teils am diesseitigen, teils am jenseitigen Rand gelegenen Positionen. Diese drei Positionen waren die folgenden: 1. die Bagrationfleschen; 2. das Dorf Semenowskoi und 3. die große Rajewskischanze. Position zwei und drei lagen jenseits des Grundes, auf der von den Russen besetzten Hälfte des Schlachtfeldes, Position eins aber, die Bagrationfleschen, waren brückenkopfartige, bis an den diesseitigen Rand des Semenowskagrundes vorgeschobene Werke. Alle drei Positionen bildeten das feindliche Zentrum, an das sich ein rechter und linker Flügel anlehnte. Der rechte bei Borodino, der linke bei Utiza. In tiefen Kolonnen stand der Feind, scheinbar endlos. Wir sahen weithin das Blitzen der Bajonette und in Front seiner Stellung, am Rande des Grundes hin, die dunkeln Öffnungen seiner Geschütze.

    Soweit der Feind. Aber das helle Licht des Morgens, dazu die Höhen, die wir innehatten, gönnten uns auch einen Überblick über unsere eigene Aufstellung. Unmittelbar vor uns, in sechs Divisionsmassen, standen die Korps von Davoust und Ney, hinter uns Junot und die Garden, während wir selber, zehntausend Reiter unter König Murat, sowohl in Länge wie Tiefe die Mitte des diesseitigen Schlachtenkörpers einnahmen.

    Der Plan Napoleons ging dahin, erst die Flügelpunkte: Borodino und Utiza, jenes durch die italienischen Garden des Vizekönigs, dieses durch die Polen unter Poniatowski, nehmen zu lassen, dann aber, und zwar unter Mitwirkung der ebengenannten von rechts und links her einschwenkenden Flügelkorps (deren rasches Vordringen er nicht bezweifelte), die furchtbare Zentrumsposition des Feindes zu durchbrechen. Erst die Fleschen, dann Semenowskoi, dann die Rajewskischanze.

    Schon vor Tagesanbruch war der erste Kanonenschuß gefallen, um sieben begann die Schlacht. Der Vizekönig nahm Borodino; aber Poniatowski, auf einen stärkeren Feind stoßend, als er erwartet hatte, konnte nicht Terrain gewinnen. So blieb, als namentlich auch bei Borodino der Angriff wieder ins Stocken kam, die Mitwirkung von den Flügeln her aus und zwang die zu unseren Füßen haltenden Korps von Davoust und Ney, die Durchbrechung des feindlichen Zentrums in weder von links noch rechts her unterstützten Frontalangriffen zu versuchen. Die Division Compans, dieselbe, die am 5. das erbitterte Gefecht gehabt hatte, hatte wieder die Tête. Sie warf sich auf das nächste Angriffsobjekt, die Bagrationfleschen, nahm sie, verlor sie und nahm sie zum zweitenmal, aber nur, um sie zum zweitenmal zu verlieren. Der tapfere Compans fiel, Rapp und Davoust, mehr oder minder schwer verwundet, mußten das Schlachtfeld verlassen, und immer neue Divisionen wurden vorgezogen, um uns den Besitz dieses vorgeschobenen Werkes zu sichern. Erst nach dem vierten diesseitigen Sturm gaben die russischen Grenadiere, die hier unter Fürst Woronzoff gestanden und geblutet hatten, jeden Wiedereroberungsversuch auf und zogen sich, soviel ihrer noch waren, auf den jenseitigen Rand des Semenowskagrundes zurück. Zu schwach, noch selbst feste Körper zu bilden, reihten sie sich in andere Truppenkörper ein, die sie hier vorfanden. Es waren ihrer noch vierhundert Mann, der Rest von sechstausend. Fürst Woronzoff, als er am Abend des Tages seinen Bericht an den Kaiser abfaßte, schloß mit den Worten: »Meine Grenadierbataillone sind nicht mehr; aber sie verschwanden nicht von dem Schlachtfelde, sondern auf ihm.«

    Um elf Uhr hatten wir die Fleschen, und der Grund mußte nun überschritten werden, um zunächst das schon an vielen Stellen brennende Dorf Semenowskoi, dann die links danebengelegene große Rajewskischanze zu nehmen. Aber schon begann es an den Kräften dazu zu fehlen, wenigstens in der Front. Die Divisionen des Davoustschen Korps waren nur noch Schlacke, die des Neyschen kaum minder, und nur die Division Friant war noch intakt. Sie erhielt Befehl zum Vorgehen und nahm jetzt die Tête, während die schon im Feuer gewesenen Divisionen aufschlossen. Die Bravour des Angriffs schien einen Augenblick einen großen Erfolg versprechen zu wollen; aber in demselben Moment, wo die vordersten Bataillone den jenseitigen Rand des Semenowskagrundes erstiegen, wurden sie von einem auf nächste Distanz hin abgegebenen Massenfeuer in langen Reihen niedergemäht; die nachrückenden Bataillone stutzten, wandten sich und suchten diesseitig der Schlucht in Ravins und Einschnitten eine Zuflucht zu gewinnen. Der Sturmversuch war als gescheitert anzusehen, und in unserer ganzen Front, sowohl unmittelbar vor uns wie auch nach beiden Flügelpunkten hin, standen keine frischen Infanteriekörper mehr, denen eine Wiederholung des Sturmes zuzumuten gewesen wäre.
    In diesem Augenblicke kam Befehl an König Murat, es mit seinen Reitermassen zu versuchen. Zu diesen Reitermassen gehörten auch wir. Murat, nach Empfangnahme der Ordre, zog sofort vom linken Flügel her seine vier Kavalleriekorps staffelweise vor, erst Grouchy, dann Nansouty, dann Montbrun, dann Latour-Maubourg, und ließ sie, das letztgenannte Korps vorläufig noch zurückhaltend, mit nur kurzen Pausen gegen die Positionen des feindlichen Zentrums vorbrechen. Grouchy führte, Nansouty und Montbrun folgten. Das Schlachtfeld donnerte unter dem Hufschlag von mehr als 6000 Pferden; selbst der Donner der Geschütze wurde momentan übertönt. Aber der ungeheure Reitersturm vermochte nicht mehr, als die wiederholten Angriffe der Infanteriedivisionen vermocht hatten; am diesseitigen Rande des Semenowskagrundes stürzten die vordersten Reihen, und was übrigblieb, riß die nachfolgenden Regimenter mit in die Flucht der in Front gestandenen hinein.

    Ein neuer Mißerfolg; tausend reiterlose Pferde stoben über das Feld hin. Grouchy, Nansouty, Montbrun hatten versagt; nur unser 4. Kavalleriekorps, Latour-Maubourg, hielt noch unberührt am rechten Flügel, in seiner Front unsere Kürassierdivision unter General de Lorges. Wir nannten ihn scherzhaft, aber zugleich auch in Anerkennung seiner chevaleresken Tugenden unseren »Ritter de Lorges«, und in der Tat, der Moment war nahe, wo die Division, die seinen stolzen Namen führte, den »Handschuh aus dem Löwengarten« holen sollte. Eine Staubwolke wurde von links her sichtbar, und König Murat selbst, der bis dahin am anderen Flügel gehalten hatte, sprengte bis in unsere Front. Er war prächtiger und phantastischer gekleidet denn je, und wahrnehmend, daß wir trotz der von Zeit zu Zeit einschlagenden Kugeln in vollkommener Ruhe Linie hielten, warf er uns im Vorüberreiten Kußhändchen zu und salutierte mit seiner Reitgerte, die er statt des Säbels führte. Zugleich gab er Befehl zum Angriff, und in zwei großen Reitermassen jagten wir über das Feld hin, die eine dieser Massen, die sechs Regimenter starke polnische Ulanendivision unter General Rozniecki (wir verloren sie bald darauf aus dem Gesicht), die andere, von der ich ausschließlich zu erzählen habe, unsere Kürassierdivision de Lorges. Aber auch diese teilte sich wieder, und wie sich eben erst aus unserer gesamten Latour-Maubourgschen Korpsmasse die polnische Ulanendivision herausgelöst hatte, so löste sich jetzt, nur wenige Minuten später, aus unserer Kürassierdivision de Lorges die westfälische Brigade von Lepel heraus. General von Lepel galt als der schönste Offizier der westfälischen Armee; er war der Liebling Friederike Katharinens, der Gemahlin König Jérômes. Wir sahen ihn eben noch mit erhobenem Pallasch vor der Front seiner Brigade, als eine Paßkugel ihn vom Pferde warf. Auf den Tod verwundet, nannte er den Namen seiner Königin und starb. Seine Brigade aber stutzte, wandte sich seitwärts und griff erst später wieder in den Gang des Gefechtes ein.

    So waren wir denn allein: sächsische Brigade Thielmann, achthundert Reiter der Regimenter Garde du Corps und von Zastrow. War unsere Stellung ohnehin am äußersten rechten Flügel gewesen, so gebot es jetzt unsere Lage, wie General von Thielmann in Beobachtung der voraufgegangenen Gefechtsmomente klar erkannt hatte, uns immer weiter nach rechts zu ziehen. Woran waren alle bisherigen Angriffe gescheitert? An der immer sich gleichbleibenden Schwierigkeit, den steil abfallenden Semenowskagrund angesichts der feindlichen Geschützreihe zu passieren. Eine Möglichkeit des Gelingens war also nur gegeben, wenn sich am Flußbett hin Übergangsstellen finden ließen, wo die Böschung minder abschüssig und das feindliche Feuer minder heftig war. Solche Stellen lagen flußaufwärts nach Utiza zu, und durch immer weiteres Ausbiegen uns mehr und mehr aus dem Kanonenbereich herausziehend, entdeckten wir endlich, keine tausend Schritt mehr von dem genannten Flügelpunkt entfernt, eine flach abfallende, vom russischen Geschütz kaum noch erreichte Stelle, die uns ein bequemes Hinabreiten in den Semenowskagrund zu ermöglichen schien. Das war, was wir suchten. Eine Minute später hielten wir in dem ausgetrockneten Flußbett, dessen Ränder, je mehr wir uns, links einschwenkend, dem feindlichen Zentrum wieder näherten, immer höher und steiler wurden. Aber diese höher- und steilerwerdenden Ränder waren zunächst unser Schutz, und das Feuer der um Dorf Semenowskoi her in Batterie stehenden hundert russischen Geschütze ging über unsere Köpfe hinweg. Wir waren schon bis dicht an das Dorf heran, ohne nennenswerten Verlusten ausgesetzt gewesen zu sein; General Thielmanns geschickte Führung hatte uns davor bewahrt. Aber nun kam der entscheidende Moment, und dieselben steilen Böschungen, die bis dahin unsere Rettung gewesen waren, waren nun unsere Gefahr. Und doch mußten wir sie hinauf. Unser Regiment Garde du Corps führte; ›In Zügen rechts schwenkt, Trab!‹ und im nächsten Augenblick suchten wir den Abhang und gleich darauf die Höhe zu gewinnen. Einzelne überschlugen sich und stürzten zurück; die meisten aber erreichten die Crête, rangierten sich und gingen zur Attacke vor.

    Erst im Anreiten sahen wir, wo wir waren. Keine dreihundert Schritt' vor uns brannte Dorf Semenowskoi; zwischen uns und dem Dorfe aber und dann wieder über dasselbe hinaus standen schachbrettartig sechs russische Karrees, Gardegrenadierbataillone, die berühmten Regimenter Ismailoff, Litauen und Finnland. Ihr Feuer empfing uns aus nächster Nähe, aber ehe eine zweite Salve folgen konnte, waren die diesseits des Dorfes stehenden Vierecke niedergeritten, und durch das brennende Semenowskoi hindurch ging die Attacke, ohne Signal oder Kommandowort, aus sich selber heraus im Fluge weiter. Innerhalb des Dorfes freilich stürzten viele der vordersten Reiter in die den ehemaligen Wohnungen als Korn- und Vorratsräume dienenden, jetzt mit glühendem Schutt gefüllten Kellerlöcher, aber die nachfolgenden Rotten passierten glücklich die gefährlichen Stellen, und alles, was jenseits stand, teilte das Schicksal derer, die diesseits gestanden hatten. Das Regiment Litauen verlor in zehn Minuten die Hälfte seiner Mannschaften.

    Aber nicht die ganze Brigade Thielmann war durch das brennende Dorf geritten; ein kleines Häuflein derselben, nicht hundert Mann stark und aus Bruchteilen beider Regimenter gemischt, hatte sich vielmehr, gleich nach dem Niederreiten der ersten Karrees, nach rechts hin tiefer in die russische Schlachtordnung hineingewagt, um hier dem Angriff einer eben hervorbrechenden feindlichen Kavallerieabteilung zu begegnen. Es glückte; die feindlichen Kürassiere wurden geworfen, und in Ausbeutung des auch an dieser Stelle beinahe unerwartet errungenen Erfolges jagten wir – ich selber gehörte dieser Abteilung zu – zwischen den massiert dahinterstehenden Bataillonskolonnen hindurch und erwachten erst wieder zu voller Besinnung, als wir uns plötzlich im Rücken der gesamten russischen Aufstellung sahen.

    Wir hätten von dieser Stelle aus leichter bis Moskau reiten können als bis an den Semenowskagrund zurück. Und doch mußten wir diesen Grund, die Scheidelinie zwischen Freund und Feind, wiederzugewinnen suchen.

    Also kehrt! Jeder hing an dem Wort unseres Führers, willig, ihm zu folgen, aber ehe wir noch wenden konnten, brachen aus zwei links und rechts befindlichen Waldparzellen dichte Baschkiren- und Kalmückenschwärme hervor, irreguläre Truppen, denen man, weil man ihnen in der Front nicht traute, diese Reserveposition angewiesen hatte. Im Nu saßen sie uns mit ihren Piken in Seite und Nacken, und eine Niederlage, der wir in zweimaligem Kampfe mit den Elitetruppen des Feindes glücklich entgangen waren, sie harrte jetzt unserer im Angesichte dieses Gesindels. Oberst von Leyser wurde vom Pferde gestochen, gleich nach ihm Major von Hoyer, und ehe fünf Minuten um waren, waren von unserem ganzen Häuflein nur noch zwei übrig: Brigadeadjutant von Minckwitz und ich. Wir hieben uns aus der immer dichter werdenden Gesindelmasse heraus und jagten dann auf unseren müden Pferden durch dieselben Intervallen, durch die wir gekommen waren, wieder zurück. Was uns rettete, waren sehr wahrscheinlich die schwarzen Kürasse, die das Regiment von Zastrow trug, so daß wir beim Passieren der langen Infanterieflanken für russische Kürassiere gehalten wurden. Unsere Pferde, wunders genug, dauerten aus, und ehe eine halbe Stunde um war, hielten wir wieder in der Reihe unserer Kameraden, so viele deren überhaupt noch waren. Von unserem Todesritt zu erzählen, dazu war keine Zeit. Denn eben jetzt bereiteten die Russen zur Rückeroberung der Position von Semenowskoi (von einem Dorfe gleichen Namens war nicht mehr zu sprechen) einen großen Angriff vor, und alles, was noch jenseits des Grundes hielt, mußte wieder nach diesseits zurück. Auch wir.

    Es mochte jetzt Mittag sein oder doch nur wenig später. Unsere Anstrengungen, dies konnten wir uns nicht verhehlen, waren im wesentlichen ebenso resultatlos verlaufen wie die voraufgegangenen Kavallerieangriffe Grouchys, Montbruns, Nansoutys; wir hatten die feindliche Seite des Semenowskagrundes erstiegen, sechs Gardebataillone niedergeritten, russische Reiterregimenter geworfen und die feindliche Schlachtaufstellung vom Rücken her gesehen, aber der endliche Abschluß war doch der, daß wir, wenn auch tausend Schritt' vorgeschoben, abermals am diesseitigen Rande des Grundes standen und die Aufgabe, die Russen auch vom jenseitigen Rande zu vertreiben, aufs neue aufnehmen mußten. Daß dies geschehen würde, war unzweifelhaft; ein Verzicht darauf würde so viel wie Verlust der Schlacht bedeutet haben. Es war also nur die Frage: wann?

    Zwei Stunden blieben wir in Erwartung; es schien, daß man an oberster Stelle schwankte; endlich kam Befehl, alle in Front stehenden Kräfte zusammenzufassen und auf der ganzen Linie noch einmal vorzugehen. Unserer Brigade Thielmann, bis auf die Hälfte zusammengeschmolzen, war dabei der Löwenanteil zugedacht; sie erhielt Ordre, die gefürchtete Rajewskischanze, den festesten Punkt der feindlichen Zentrumsstellung, zu stürmen. Ein Schanzensturm mit Kavallerie!

    Es war Ney selbst, der diesen Befehl überbrachte. General Thielmann zeigte statt aller Antwort auf die zertrümmerte Brigade: vierhundert Reiter auf müden Pferden. Aber Ney, in der furchtbaren Erregung des Moments, zog das Pistol aus dem Halfter und hielt es im Anschlag, zum Zeichen, daß er bereit sei, jeden Versuch eines Widerspruchs zum Schweigen zu bringen. Thielmann setzte sich vor die Front, die Trompeter bliesen, und abermals ging es gegen den Grund. Diesmal mit halblinks, weil die Rajewskischanze um fünfhundert Schritte weiter flußabwärts lag. Was und wen wir im Anreiten verloren, weiß ich nicht mehr, weil sich alles, was nun kam, in wenige Minuten zusammendrängte. Nur so viel, daß die Verluste bedeutend waren. Jetzt waren wir heran, und im nächsten Augenblick unten in der Schlucht; aber das war nicht mehr das leere Flußbett, in dem wir drei Stunden vorher, als wir in weitem Bogen von Utiza her einschwenkten, einen beinahe vollkommenen Schutz vor dem feindlichen Kreuzfeuer gefunden hatten, sondern in ebendieser schutzgebenden Vertiefung hatten sich jetzt frische, aus der Reserve her vorgezogene Bataillone eingenistet und empfingen uns, in dichten Knäueln Stellung nehmend, erst mit Flintenfeuer, dann, wenn wir die Knäuel sprengten, mit Kolben und Bajonett. Doch umsonst; wie die Windsbraut gingen wir hindurch oder dran vorüber, denn unsere Aufgabe war nicht, uns hier unten in Gruppen- und Knäuelkämpfen zu vertun, sondern drüben die hochaufragende Rajewskischanze im ersten Anlauf zu nehmen. Und jetzt waren wir den steilen Flußbettabhang wieder hinauf und hielten vor der noch steileren Böschung der Schanze selbst. Unsere vordersten Züge bogen unwillkürlich nach rechts hin aus und suchten durch eine im Halbkreis gehende Bewegung die Kehle der Schanze zu gewinnen, die nachfolgenden Rotten aber, als wäre die Schanzenböschung nur die Fortsetzung des eben im Fluge genommenen Flußbettabhanges, jagten die Redoute hinauf und sprengten von oben her mitten in die Schanze hinein. Ein Kampf Mann gegen Mann entspann sich; die Kanoniere, die nach Wischer und Hebebäumen griffen, wurden niedergehauen; was übrigblieb, warf die Waffen fort und gab sich zu Gefangenen. Nur General Lichatschew, der hier kommandierte, wollte keinen Pardon. Er hatte eine Stunde vorher die Schanze verlassen, um bei General Kutusow über den damals gutstehenden Gang des Gefechtes zu rapportieren. »Wo liegt die Schanze?« hatte Kutusow gefragt, und Lichatschew hatte die rechte Hand erhoben, um die Richtung anzugeben. Eine Sechspfünderkugel riß ihm die Hand fort; er hob die Linke, zeigte scharf gegen Süden und sagte: »Dort.« Dann war er, nur leicht verbunden, in die ihm anvertraute Schanze zurückgekehrt. Nun lag er tot unter den Toten.

    Das Zentrum war durchbrochen, die Rajewskischanze in unseren Händen. Als, um uns abzulösen, die Division Morand heranrückte und General Thielmann den Befehl zum Sammeln der Brigade gab, war kein Trompeter mehr da, um zu blasen. Ein Schwerverwundeter endlich ließ sich aufs Pferd heben und blies die Signale. So gingen wir auf die andere Seite des Grundes zurück.

    Es war erst drei Uhr, aber die Kraft beider Heere war wie ausgebrannt. Wir hatten ein Drittel, die Russen die Hälfte ihres Bestandes an diesen Tag gesetzt. Kutusow, in einem Kriegsrat, der abgehalten wurde, beschloß, bis hinter Moskau zurückzugehen. Er wußte, daß man's ihm nicht zum Guten anrechnen werde, und sagte: »Je payerai les pots cassés, mais je me sacrifie pour le bien de ma patrie.«

    Am andern Morgen trat er den Rückzug an; Napoleon folgte den Tag darauf. Auch wir. Wir waren nur noch ein Trümmerhaufen; was wir gewesen, das lag bei Semenowskoi und in der Rajewskischanze; aber in unsere Standarten durften wir den Namen schreiben: Borodino!