Das Wesen der Religion Kapitel 2 by Ludwig Feuerbach Lyrics
Theologische Welterklärung
Den Kindern gibt man auf die Frage, woher die Kindlein kommen, bei uns diese »Erklärung«, dass sie die Amme aus einem Brunnen holt, wo die Kindlein wie Fische herumschwimmen. Nicht anders ist die Erklärung, die uns die Theologie von dem Ursprung der organischen oder überhaupt natürlichen Wesen gibt. Gott ist der tiefe oder schöne Brunnen der Fantasie, in dem alle Realitäten, alle Vollkommenheiten, alle Kräfte enthalten sind, alle Dinge folglich schon fertig wie Fischlein herumschwimmen; die Theologie ist die Amme, die sie aus diesem Brunnen hervorholt, aber die Hauptperson, die Natur, die Mutter, die mit Schmerzen die Kindlein gebiert, die sie neun Monate lang unter ihrem Herzen trägt, bleibt bei dieser ursprünglich kindlichen, jetzt aber kindischen Erklärung ganz außer dem Spiele. Allerdings ist diese Erklärung schöner, gemütlicher, leichter, fasslicher und den Kindern Gottes einleuchtender, als die natürliche, die nur allmählich durch unzählige Hindernisse hindurch aus dem Dunkel zum Lichte empordringt. Aber auch die Erklärung unserer frommen Väter von Hagelschlag, Viehseuchen, Dürre und Gewittern durch Wettermacher, Zauberer, Hexen ist weit »poetischer«, leichter und noch heute ungebildeten Menschen einleuchtender, als die Erklärung dieser Erscheinungen aus natürlichen Ursachen.
»Der Ursprung des Lebens ist unerklärlich und unbegreiflich«; es sei; aber diese Unbegreiflichkeit berechtigt dich nicht zu den abergläubischen Konsequenzen, welche die Theologie aus den Lücken des menschlichen Wissens zieht, berechtigt dich nicht, über das Gebiet der natürlichen Ursachen auszuschweifen, denn du kannst nur sagen: ich kann nicht aus diesen mir bekannten natürlichen Erscheinungen und Ursachen oder aus ihnen, wie sie mir bis jetzt bekannt sind, das Leben erklären, aber nicht: es ist schlechterdings, überhaupt nicht aus der Natur erklärbar, ohne dir anzumaßen, den Ozeon der Natur bereits bis auf den letzten Tropfen erschöpft zu haben, berechtigt dich nicht, durch die Annahme erdichteter Wesen das Unerklärliche zu erklären, berechtigt dich nicht, durch eine nichts erklärende Erklärung dich und andere zu täuschen und zu belügen, berechtigt dich nicht, dein Nichtwissen natürlicher, materieller Ursachen in ein Nichtsein solcher Ursachen zu verwandeln, deine Ignoranz zu vergöttern, zu personifizieren, zu vergegenständlichen in einem Wesen, welches diese Ignoranz aufheben soll, und doch nichts anderes ausdrückt, als die Natur dieser deiner Ignoranz, als den Mangel positiver, materieller Erklärungsgründe. Denn was ist das immaterielle, un- oder nicht körperliche, nicht natürliche, nicht weltliche Wesen, woraus du dir das Leben erklärst, anders als eben der präzise Ausdruck von der intellektuellen Abwesenheit materieller, körperlicher, natürlicher, kosmischer Ursachen? Aber statt so ehrlich und bescheiden zu sein, schlechtweg zu sagen: ich weiß keinen Grund, ich kann es nicht erklären, mir fehlen die Data, die Materialien, verwandelst du diese Mängel, diese Negationen, diese Leerheiten deines Kopfs vermittelst der Fantasie in positive Wesen, in Wesen, die immaterielle, d. h. keine materiellen, keine natürlichen Wesen sind, weil du keine materiellen, keine natürlichen Ursachen weißt. Die Ignoranz begnügt sich übrigens mit immateriellen, unkörperlichen, nicht natürlichen Wesen, aber ihre unzertrennliche Gefährtin, die üppige Fantasie, die es immer nur mit höchsten und allerhöchsten und überhöchsten Wesen zu tun hat, erhebt sogleich diese armen Geschöpfe der Ignoranz in den Rang von übermateriellen, übernatürlichen Wesen.
Die Vorstellung, dass die Natur selbst, die Welt überhaupt, das Universum einen wirklichen Anfang habe, dass also einst keine Natur, keine Welt, kein Universum gewesen, ist eine kleinliche Vorstellung, die nur da dem Menschen einleuchtet, wo er eine kleinliche, beschränkte Vorstellung von der Welt hat, – ist eine sinn- und bodenlose Einbildung – die Einbildung, dass einst nichts Wirkliches gewesen ist, denn der Inbegriff aller Realität, Wirklichkeit ist eben die Welt oder Natur. Alle Eigenschaften oder Bestimmungen Gottes, die ihn zu einem gegenständlichen, wirklichen Wesen machen, sind selbst nur von der Natur abstrahierte, die Natur voraussetzende, die Natur ausdrückende Eigenschaften – Eigenschaften also, die wegfallen, wenn die Natur wegfällt. Allerdings bleibt dir auch dann noch, wenn du von der Natur abstrahierst, wenn du in Gedanken oder in der Einbildung ihre Existenz aufhebst, d. h. deine Augen zudrückst, alle bestimmten sinnlichen Bilder von den Naturgegenständen in dir auslöschest, die Natur also nicht sinnlich (nicht in concreto, wie die Philosophen sagen) vorstellst, ein Wesen, ein Inbegriff von Eigenschaften, wie Unendlichkeit, Macht, Einheit, Notwendigkeit, Ewigkeit übrig; aber dieses nach Abzug aller sinnfälligen Eigenschaften und Erscheinungen übrigbleibende Wesen ist eben nichts anderes, als das abgezogene Wesen der Natur oder die Natur in abstracto, in Gedanken. Und deine Ableitung der Natur oder Welt von Gott ist daher in dieser Beziehung nichts anderes, als die Ableitung des sinnlichen, wirklichen Wesens der Natur von ihrem abstrakten, gedachten, nur in der Vorstellung, nur im Gedanken existierenden Wesen – eine Ableitung, die dir deswegen vernünftig erscheint, weil du im Denken stets das Abstrakte, Allgemeine als das dem Denken Nähere, folglich dem Gedanken nach Höhere und Frühere dem Einzelnen, Wirklichen, Konkreten voraussetzest, obgleich es in der Wirklichkeit gerade umgekehrt, die Natur früher als Gott, d. h. das Konkrete früher als das Abstrakte, das Sinnliche früher als das Gedachte ist. In der Wirklichkeit, wo es nur natürlich zugeht, folgt die Kopie auf das Original, das Bild auf die Sache, der Gedanke auf den Gegenstand; aber auf dem übernatürlichen, wunderlichen Gebiet der Theologie folgt das Original auf die Kopie, die Sache auf das Bild. »Es ist wunderlich«, sagt der heilige Augustin, »aber doch wahr, daß diese Welt uns nicht bekannt sein könnte, wenn sie nicht wäre, aber nicht sein könnte, wenn sie Gott nicht bekannt wäre.« Das heißt eben: die Welt wird eher gewusst, gedacht, als sie wirklich ist; ja sie ist nur, weil sie gedacht wurde, das Sein ist eine Folge des Wissens oder Denkens, das Original eine Folge der Kopie, das Wesen eine Folge des Bildes. [...]
Den Kindern gibt man auf die Frage, woher die Kindlein kommen, bei uns diese »Erklärung«, dass sie die Amme aus einem Brunnen holt, wo die Kindlein wie Fische herumschwimmen. Nicht anders ist die Erklärung, die uns die Theologie von dem Ursprung der organischen oder überhaupt natürlichen Wesen gibt. Gott ist der tiefe oder schöne Brunnen der Fantasie, in dem alle Realitäten, alle Vollkommenheiten, alle Kräfte enthalten sind, alle Dinge folglich schon fertig wie Fischlein herumschwimmen; die Theologie ist die Amme, die sie aus diesem Brunnen hervorholt, aber die Hauptperson, die Natur, die Mutter, die mit Schmerzen die Kindlein gebiert, die sie neun Monate lang unter ihrem Herzen trägt, bleibt bei dieser ursprünglich kindlichen, jetzt aber kindischen Erklärung ganz außer dem Spiele. Allerdings ist diese Erklärung schöner, gemütlicher, leichter, fasslicher und den Kindern Gottes einleuchtender, als die natürliche, die nur allmählich durch unzählige Hindernisse hindurch aus dem Dunkel zum Lichte empordringt. Aber auch die Erklärung unserer frommen Väter von Hagelschlag, Viehseuchen, Dürre und Gewittern durch Wettermacher, Zauberer, Hexen ist weit »poetischer«, leichter und noch heute ungebildeten Menschen einleuchtender, als die Erklärung dieser Erscheinungen aus natürlichen Ursachen.
»Der Ursprung des Lebens ist unerklärlich und unbegreiflich«; es sei; aber diese Unbegreiflichkeit berechtigt dich nicht zu den abergläubischen Konsequenzen, welche die Theologie aus den Lücken des menschlichen Wissens zieht, berechtigt dich nicht, über das Gebiet der natürlichen Ursachen auszuschweifen, denn du kannst nur sagen: ich kann nicht aus diesen mir bekannten natürlichen Erscheinungen und Ursachen oder aus ihnen, wie sie mir bis jetzt bekannt sind, das Leben erklären, aber nicht: es ist schlechterdings, überhaupt nicht aus der Natur erklärbar, ohne dir anzumaßen, den Ozeon der Natur bereits bis auf den letzten Tropfen erschöpft zu haben, berechtigt dich nicht, durch die Annahme erdichteter Wesen das Unerklärliche zu erklären, berechtigt dich nicht, durch eine nichts erklärende Erklärung dich und andere zu täuschen und zu belügen, berechtigt dich nicht, dein Nichtwissen natürlicher, materieller Ursachen in ein Nichtsein solcher Ursachen zu verwandeln, deine Ignoranz zu vergöttern, zu personifizieren, zu vergegenständlichen in einem Wesen, welches diese Ignoranz aufheben soll, und doch nichts anderes ausdrückt, als die Natur dieser deiner Ignoranz, als den Mangel positiver, materieller Erklärungsgründe. Denn was ist das immaterielle, un- oder nicht körperliche, nicht natürliche, nicht weltliche Wesen, woraus du dir das Leben erklärst, anders als eben der präzise Ausdruck von der intellektuellen Abwesenheit materieller, körperlicher, natürlicher, kosmischer Ursachen? Aber statt so ehrlich und bescheiden zu sein, schlechtweg zu sagen: ich weiß keinen Grund, ich kann es nicht erklären, mir fehlen die Data, die Materialien, verwandelst du diese Mängel, diese Negationen, diese Leerheiten deines Kopfs vermittelst der Fantasie in positive Wesen, in Wesen, die immaterielle, d. h. keine materiellen, keine natürlichen Wesen sind, weil du keine materiellen, keine natürlichen Ursachen weißt. Die Ignoranz begnügt sich übrigens mit immateriellen, unkörperlichen, nicht natürlichen Wesen, aber ihre unzertrennliche Gefährtin, die üppige Fantasie, die es immer nur mit höchsten und allerhöchsten und überhöchsten Wesen zu tun hat, erhebt sogleich diese armen Geschöpfe der Ignoranz in den Rang von übermateriellen, übernatürlichen Wesen.
Die Vorstellung, dass die Natur selbst, die Welt überhaupt, das Universum einen wirklichen Anfang habe, dass also einst keine Natur, keine Welt, kein Universum gewesen, ist eine kleinliche Vorstellung, die nur da dem Menschen einleuchtet, wo er eine kleinliche, beschränkte Vorstellung von der Welt hat, – ist eine sinn- und bodenlose Einbildung – die Einbildung, dass einst nichts Wirkliches gewesen ist, denn der Inbegriff aller Realität, Wirklichkeit ist eben die Welt oder Natur. Alle Eigenschaften oder Bestimmungen Gottes, die ihn zu einem gegenständlichen, wirklichen Wesen machen, sind selbst nur von der Natur abstrahierte, die Natur voraussetzende, die Natur ausdrückende Eigenschaften – Eigenschaften also, die wegfallen, wenn die Natur wegfällt. Allerdings bleibt dir auch dann noch, wenn du von der Natur abstrahierst, wenn du in Gedanken oder in der Einbildung ihre Existenz aufhebst, d. h. deine Augen zudrückst, alle bestimmten sinnlichen Bilder von den Naturgegenständen in dir auslöschest, die Natur also nicht sinnlich (nicht in concreto, wie die Philosophen sagen) vorstellst, ein Wesen, ein Inbegriff von Eigenschaften, wie Unendlichkeit, Macht, Einheit, Notwendigkeit, Ewigkeit übrig; aber dieses nach Abzug aller sinnfälligen Eigenschaften und Erscheinungen übrigbleibende Wesen ist eben nichts anderes, als das abgezogene Wesen der Natur oder die Natur in abstracto, in Gedanken. Und deine Ableitung der Natur oder Welt von Gott ist daher in dieser Beziehung nichts anderes, als die Ableitung des sinnlichen, wirklichen Wesens der Natur von ihrem abstrakten, gedachten, nur in der Vorstellung, nur im Gedanken existierenden Wesen – eine Ableitung, die dir deswegen vernünftig erscheint, weil du im Denken stets das Abstrakte, Allgemeine als das dem Denken Nähere, folglich dem Gedanken nach Höhere und Frühere dem Einzelnen, Wirklichen, Konkreten voraussetzest, obgleich es in der Wirklichkeit gerade umgekehrt, die Natur früher als Gott, d. h. das Konkrete früher als das Abstrakte, das Sinnliche früher als das Gedachte ist. In der Wirklichkeit, wo es nur natürlich zugeht, folgt die Kopie auf das Original, das Bild auf die Sache, der Gedanke auf den Gegenstand; aber auf dem übernatürlichen, wunderlichen Gebiet der Theologie folgt das Original auf die Kopie, die Sache auf das Bild. »Es ist wunderlich«, sagt der heilige Augustin, »aber doch wahr, daß diese Welt uns nicht bekannt sein könnte, wenn sie nicht wäre, aber nicht sein könnte, wenn sie Gott nicht bekannt wäre.« Das heißt eben: die Welt wird eher gewusst, gedacht, als sie wirklich ist; ja sie ist nur, weil sie gedacht wurde, das Sein ist eine Folge des Wissens oder Denkens, das Original eine Folge der Kopie, das Wesen eine Folge des Bildes. [...]