Rede zum Jahrestag des Anschlags in Halle by Frank-Walter Steinmeier Lyrics
[Rede von Bundespräsident Frank-Walter Steinmeier bei der Gedenkveranstaltung zum ersten Jahrestag des Anschlags in Halle am 9. Oktober 2020]
Sehr geehrter Ministerpräsident, sehr geehrter Oberbürgermeister, sehr geehrter Herr [?], lieber Herr Schuster, lieber Herr [?], Exzellenzen, meine sehr veehrten Damen und Herren, verehrte Angehörige der Opfer, werte Gäste,
Ein Jahr ist vergangen. Schon ein Jahr. Nur ein Jahr.
Heute vor einem Jahr wurde hier in Halle ein Alptraum wahr, am helllichten Tag, mitten in Deutschland. Ausgerechnet in Deutschland.
Ein Jahr ist vergangen, aber der Schmerz, das Entsetzen ist nicht gewichen. Meine Gedanken und mein tiefes Mitgefühl gelten heute den Menschen, die ihre Liebsten verloren haben. Zwei Menschen wurden kaltblütig ermordet: Jana Lange und Kevin Schwarze. Für ihre Freunde und Familien ist seither nichts mehr wie zuvor. Es gibt keinen Trost für ihren Verlust. Als Bundespräsident möchte ich Ihnen, den Angehörigen, heute sagen: Wir stehen an Ihrer Seite. Wir alle, die Menschen in unserem Land, trauern mit Ihnen. Und wir vergessen nicht.
Wir stehen auch an der Seite der Menschen, die schwer verletzt wurden. Wir stehen an der Seite der Menschen, die der Täter mit seinem mörderischen Hass im Visier hatte. Sie, die Mitglieder der Jüdischen Gemeinde, die stundenlang um ihr Leben fürchten mussten, Sie wird dieser 9. Oktober nie wieder loslassen. Sie tragen innerlich schwer an den Folgen. Sie werden verfolgt von Bildern, die Sie nachts heimsuchen, von der Erinnerung, hilflos und eingeschlossen zu sein, als die Schüsse fielen. Sie werden gequält von der Erinnerung an die Furcht, die sich ausbreitete im Synagogenraum; der Erinnerung an die Ohnmacht von Eltern beim Versuch, die weinenden Kinder zu schützen; von der Vorstellung, was alles hätte geschehen können; vor allem: von der Angst, dass sich ein solcher Alptraum wiederholen könnte. Wir können nur erahnen, was Sie durchmachen.
Und den Alptraum jenes 9. Oktober erlebten auch die Mitarbeiter und Gäste des Kiez-Döner. Nur Minuten nach den Schüssen auf die Synagogentür greift der Täter den Imbiss mit Sprengsätzen an, schießt auf Passanten und erschießt einen Gast. Auch die, die Zeugen der Tat wurden, werden die Bilder nicht los. Auch sie haben unser Mitgefühl.
Ich bin dankbar, heute hier zu sein. Als Bundespräsident empfinde ich tiefe Trauer. Aber ich empfinde auch ein Jahr später noch Scham und Zorn.
Dieser 9. Oktober, er hat sich auch mir ins Gedächtnis eingegraben. Es sollte ein Tag der Freude sein. Nicht weit von hier, in Leipzig, wollten wir uns erinnern an den Mut der Zehntausenden, die dort am 9. Oktober 1989 auf die Straße gegangen waren, die von Freiheit träumten und für ihre Freiheit kämpften, für die Achtung der Menschenwürde. Wir wollten sie feiern, die Bürgerrechtlerinnen und Bürgerrechtler, die Friedlichen Revolutionäre von damals, ohne die die Mauer nicht gefallen und unser Land nicht schon dreißig Jahre wiedervereint wäre.
Aber über die Feiern legte sich ein dunkler Schatten. Noch während wir dort in Leipzig redeten über den Mut derer, die vor dreißig Jahren eine Diktatur zu Fall gebracht hatten, sickerten Nachrichten aus Halle durch – zu Anfang ungenau, später wurde die Dimension der monströsen Tat klar. Ein rechtsextremer Attentäter wollte in einem jüdischen Gotteshaus am höchsten jüdischen Feiertag ein Massaker verüben. Am helllichten Tag, mitten in Deutschland. Ausgerechnet in Deutschland.
Ausgerechnet an Jom Kippur. Die Synagoge war voll besetzt: Alte, Junge, Familien mit Kindern, Gäste aus dem Ausland. Sie sollten sterben nach dem barbarischen Plan des Täters.
Es kommt fast einem Wunder gleich, dass dieser grausame Plan scheiterte. Dieses Wunder verdanken wir auch einer Tür – einer alten hölzernen Tür. Sie, nur sie hat ein Blutbad verhindert. Das Bild dieser Tür mit ihren Einschusslöchern hat sich mir ebenfalls tief eingeprägt. Diese Tür ist ein Sinnbild für die Wunde, die dieser 9. Oktober 2019 gerissen hat. Aber für mich ist diese Tür auch ein Symbol der Stärke und des Zusammenhalts. Das ist auch die Botschaft der jungen Künstlerin Lidia Edel, die die Tür so wunderbar zum Denkmal umgestaltet hat.
Die Synagoge hat jetzt eine neue Tür, eine, die noch stärker, noch wehrhafter ist. Für Sie, lieber Herr Privorozki, für Ihre Gemeindemitglieder ist das sicher das Mindeste, aber es wird Ihnen die Beunruhigung durch wachsenden Antisemitismus nicht nehmen.
Mich erfüllt auch das mit Scham und Zorn: dass es nötig ist, jüdische Gotteshäuser in unserem Land zu schützen. Dass es für jüdische Kinder Alltag ist, schwer bewachte Kindergärten und Schulen zu besuchen. Dass Jüdinnen und Juden immer und zu jeder Zeit damit rechnen müssen, auf der Straße angepöbelt, angespuckt oder gar gewaltsam angegriffen zu werden. Dass jüdische Gräber und Stolpersteine geschändet und entehrt werden. Dass antisemitische Hetze und Hass anschwellen, vor allem im Netz, aber bei weitem nicht nur dort; und dass antisemitische Straftaten zunehmen. Erst zu Beginn dieser Woche erschütterte uns die Nachricht von einer weiteren antisemitischen Gewalttat vor der Synagoge in Hamburg.
Ich bin zutiefst dankbar, dass es wieder jüdisches Leben gibt in unserem Land. Deshalb schmerzt es mich umso mehr, wenn Jüdinnen und Juden sich in Deutschland nicht sicher fühlen. Einige von ihnen haben nach Halle öffentlich gefragt, ob das noch ihr Land ist. Oder ob es Zeit ist, die Koffer vom Dachboden zu holen, wie der Historiker Michael Brenner, Sohn zweier Holocaust-Überlebender, geschrieben hat.
Denn es hat schon so viele antisemitische Gewalttaten gegeben. Manche, die länger zurückliegen, an die die Erinnerung verblasst. Ich denke an den Brandanschlag auf das Jüdische Altersheim in München, bei dem sieben Menschen ums Leben kamen. Der Anschlag wurde nie aufgeklärt. Ich denke an den langjährigen Vorsteher der Jüdischen Gemeinde von Nürnberg, Shlomo Lewin, und seine Lebensgefährtin Frida Poeschke, die ein Rechtsextremer in ihrem Haus in Erlangen erschoss – nur wenige Wochen nach dem Oktoberfestattentat. Aber die Spuren solcher Taten verlieren sich nicht in der Geschichte. Ich denke an die vielen jüdischen Mitmenschen, die – bis in unsere Tage hinein – Opfer von gewaltsamen Angriffen geworden sind.
Die Liste der antisemitischen Übergriffe seit 1945 ist lang. Es ist eine Liste der Schande. Sie muss jeden Demokraten und jede Demokratin umtreiben.
Es reicht nicht, einen Anschlag wie den in Halle zu verurteilen – und dann wieder zur Tagesordnung überzugehen. Wir alle müssen Haltung zeigen. Wir müssen zeigen, dass wir keine Form von Antisemitismus, ob alten oder neuen, linken oder rechten, tolerieren – mehr noch, dass wir ihn aktiv bekämpfen. Und dieser Kampf geht uns alle an.
Denn Antisemitismus ist ein Seismograph für den Zustand unserer Demokratie. Je offener er sich äußert, desto stärker sind unsere Werte, sind Toleranz und die Achtung der Menschenwürde angefochten.
Deshalb muss es uns alarmieren, wenn Kritiker der Corona-Maßnahmen alte antisemitische Verschwörungstheorien neu aufleben lassen und millionenfach verbreiten. Und lassen Sie mich auch das sagen: Es ist niederträchtig, wenn manche dieser Kritiker sich auch noch öffentlich den gelben Stern anheften. Das ist geschichtslos. Das ist unerträglich!
Der Hass des Täters von Halle richtet sich nicht nur gegen Juden. Er richtet sich auch gegen Muslime, gegen Menschen mit einer Migrationsgeschichte, gegen Frauen, gegen das, was er für links hält. Eine Moschee anzugreifen, so war zu lesen, wäre ihm auch recht gewesen. Sein Hass folgt einem nur allzu bekannten Muster: Menschen, die eine andere Hautfarbe haben, die vermeintlich fremd sind, Menschen, die an anderes glauben und andere Überzeugungen haben, in Gruppen zu zwingen, sie herabzuwürdigen, auszugrenzen, sie im Extremfall zu entmenschlichen.
Das ist die Logik von Antisemitismus, von Rassenhass, von Islamfeindlichkeit, von Homophobie – die Logik jeder Form von Menschenfeindlichkeit. Auch Zuwanderer und Flüchtlinge, auch Muslime werden in unserem Land beschimpft, diskriminiert, bedroht, ermordet; ihre Moscheen werden beschmiert und angegriffen. Der Hass einiger geht heute so weit, dass ein Politiker wie Walter Lübcke kaltblütig umgebracht wurde, weil er für Menschlichkeit eintrat. Dieser Hass trifft auch andere Politikerinnen und Politiker, ganz besonders auf kommunaler Ebene. Nichts davon darf uns gleichgültig lassen. Nichts davon dürfen wir hinnehmen.
Heute erinnern wir uns an den Anschlag von Halle. Vor wenigen Wochen sprach ich mit den Angehörigen der Opfer von Hanau, kurz darauf gedachten wir in München der Opfer des Oktoberfestattentats vor vierzig Jahren. München, Halle, Hanau: Es ist eine lange blutige Linie, die diese und viele andere Taten verbindet, eine Linie, die auch über die NSU-Morde und den Mord an Walter Lübcke führt.
Rechtsextremismus reicht tief hinein in unsere Gesellschaft und rechtsextremer Terrorismus weit zurück in unsere Geschichte. Diese Erkenntnis hat sich erst nach den NSU-Morden durchgesetzt, spät, sehr spät. Das muss uns Mahnung und Auftrag zugleich sein.
Im Fall von Halle und auch von Hanau wissen wir, wer die Täter sind. Aber wir müssen viel mehr wissen, wir müssen die Motive ergründen, die Hintergründe solcher Taten aufklären, Netzwerke aufspüren, um Gefahren früher zu erkennen und, wo immer möglich, solche Verbrechen zu verhindern. Zuallererst ist das Aufgabe des Staates und der Sicherheitsorgane. Aber es geht uns alle an: Täter werden nicht zum ersten Mal auffällig, wenn sie eine Bombe werfen, den Schuss abfeuern oder einen Brand legen.
Der Attentäter von Halle hat vermutlich allein gehandelt, aber er ist nicht allein in seinem Hass. Die These vom Einzeltäter, das wissen wir heute, hat in der Vergangenheit allzu oft vom Kern abgelenkt. Täter haben ein Umfeld, in dem sie sich radikalisieren. Sie sind eingebunden in Netzwerke, in virtuelle und reale. Sie haben Unterstützer, virtuelle und reale. Damit meine ich auch die, die mit Worten ein Klima des Hasses erzeugen.
Lassen Sie es mich klar sagen: Wer menschenverachtende Ressentiments verbreitet und die Spaltung unserer Gesellschaft in "die" und "wir" vorantreibt, bereitet den Boden für Gewalt. Hier müssen wir noch viel eindeutiger eine Grenzlinie ziehen. Diese Grenzlinie heißt: Wir dulden keine Menschenfeindlichkeit in unserem Land, nicht in Worten und erst recht nicht in Taten!
München, die NSU-Morde, der Mord an Walter Lübcke, Halle, Hanau: Die Erinnerung ist Verantwortung. Wegschauen ist uns nicht erlaubt!
Unser Grundgesetz stellt die Menschenwürde unter besonderen Schutz. Das ist die Lehre aus unserer Geschichte, und daraus erwächst unsere Verpflichtung in der Gegenwart.
Es ist eine Verpflichtung für den Staat und seine Sicherheitskräfte, jede und jeden zu schützen, egal welche Hautfarbe er hat, wo sie herkommt, was er glaubt. Und wir müssen jüdische Einrichtungen schützen, besser schützen als bisher. Die Bundesregierung und der Zentralrat der Juden haben kürzlich eine Vereinbarung dazu getroffen. Länder und Kommunen unternehmen eigene Anstrengungen.
Unser Grundgesetz ist auch eine Verpflichtung für jeden und jede Einzelne von uns, für alle, die in diesem Land leben und leben wollen. Wir müssen uns einmischen, in der U-Bahn, im Café, auf dem Schulhof, auf der Straße, im Netz. Jede und jeder muss für die Werte unseres demokratischen Rechtsstaates einstehen. Jede und jeder muss aufstehen, wenn die Menschenwürde anderer missachtet wird.
Menschenfeindlichkeit trifft nicht jeden, aber sie betrifft uns alle. Denn sie ist ein Angriff auf die offene Gesellschaft. Sie trifft unsere Demokratie ins Herz. Das dürfen wir nicht zulassen!
Und ich bin sicher, die meisten Menschen in unserem Land wollen das nicht zulassen.
Deshalb lassen Sie uns zusammenstehen, Christen, Juden und Muslime, Gläubige und Atheisten, Ost- und Westdeutsche, neu Zugewanderte und Alteingesessene. Wir stehen zusammen gegen Antisemitismus, gegen Rassenhass, gegen Muslimfeindlichkeit, gegen Menschenfeindlichkeit. Hier in Halle und überall in Deutschland.
Der 9. Oktober vor einem Jahr brachte eine schreckliche Botschaft.
Die Menschen auf den Straßen von Leipzig am 9. Oktober vor dreißig Jahren, das war die gute Botschaft. Sie waren stark, weil sie zusammenstanden. Wir sind stark, wenn wir zusammenstehen. Das ist das Erbe, das sie uns hinterlassen haben. Das ist Auftrag und Verpflichtung zugleich.
Sehr geehrter Ministerpräsident, sehr geehrter Oberbürgermeister, sehr geehrter Herr [?], lieber Herr Schuster, lieber Herr [?], Exzellenzen, meine sehr veehrten Damen und Herren, verehrte Angehörige der Opfer, werte Gäste,
Ein Jahr ist vergangen. Schon ein Jahr. Nur ein Jahr.
Heute vor einem Jahr wurde hier in Halle ein Alptraum wahr, am helllichten Tag, mitten in Deutschland. Ausgerechnet in Deutschland.
Ein Jahr ist vergangen, aber der Schmerz, das Entsetzen ist nicht gewichen. Meine Gedanken und mein tiefes Mitgefühl gelten heute den Menschen, die ihre Liebsten verloren haben. Zwei Menschen wurden kaltblütig ermordet: Jana Lange und Kevin Schwarze. Für ihre Freunde und Familien ist seither nichts mehr wie zuvor. Es gibt keinen Trost für ihren Verlust. Als Bundespräsident möchte ich Ihnen, den Angehörigen, heute sagen: Wir stehen an Ihrer Seite. Wir alle, die Menschen in unserem Land, trauern mit Ihnen. Und wir vergessen nicht.
Wir stehen auch an der Seite der Menschen, die schwer verletzt wurden. Wir stehen an der Seite der Menschen, die der Täter mit seinem mörderischen Hass im Visier hatte. Sie, die Mitglieder der Jüdischen Gemeinde, die stundenlang um ihr Leben fürchten mussten, Sie wird dieser 9. Oktober nie wieder loslassen. Sie tragen innerlich schwer an den Folgen. Sie werden verfolgt von Bildern, die Sie nachts heimsuchen, von der Erinnerung, hilflos und eingeschlossen zu sein, als die Schüsse fielen. Sie werden gequält von der Erinnerung an die Furcht, die sich ausbreitete im Synagogenraum; der Erinnerung an die Ohnmacht von Eltern beim Versuch, die weinenden Kinder zu schützen; von der Vorstellung, was alles hätte geschehen können; vor allem: von der Angst, dass sich ein solcher Alptraum wiederholen könnte. Wir können nur erahnen, was Sie durchmachen.
Und den Alptraum jenes 9. Oktober erlebten auch die Mitarbeiter und Gäste des Kiez-Döner. Nur Minuten nach den Schüssen auf die Synagogentür greift der Täter den Imbiss mit Sprengsätzen an, schießt auf Passanten und erschießt einen Gast. Auch die, die Zeugen der Tat wurden, werden die Bilder nicht los. Auch sie haben unser Mitgefühl.
Ich bin dankbar, heute hier zu sein. Als Bundespräsident empfinde ich tiefe Trauer. Aber ich empfinde auch ein Jahr später noch Scham und Zorn.
Dieser 9. Oktober, er hat sich auch mir ins Gedächtnis eingegraben. Es sollte ein Tag der Freude sein. Nicht weit von hier, in Leipzig, wollten wir uns erinnern an den Mut der Zehntausenden, die dort am 9. Oktober 1989 auf die Straße gegangen waren, die von Freiheit träumten und für ihre Freiheit kämpften, für die Achtung der Menschenwürde. Wir wollten sie feiern, die Bürgerrechtlerinnen und Bürgerrechtler, die Friedlichen Revolutionäre von damals, ohne die die Mauer nicht gefallen und unser Land nicht schon dreißig Jahre wiedervereint wäre.
Aber über die Feiern legte sich ein dunkler Schatten. Noch während wir dort in Leipzig redeten über den Mut derer, die vor dreißig Jahren eine Diktatur zu Fall gebracht hatten, sickerten Nachrichten aus Halle durch – zu Anfang ungenau, später wurde die Dimension der monströsen Tat klar. Ein rechtsextremer Attentäter wollte in einem jüdischen Gotteshaus am höchsten jüdischen Feiertag ein Massaker verüben. Am helllichten Tag, mitten in Deutschland. Ausgerechnet in Deutschland.
Ausgerechnet an Jom Kippur. Die Synagoge war voll besetzt: Alte, Junge, Familien mit Kindern, Gäste aus dem Ausland. Sie sollten sterben nach dem barbarischen Plan des Täters.
Es kommt fast einem Wunder gleich, dass dieser grausame Plan scheiterte. Dieses Wunder verdanken wir auch einer Tür – einer alten hölzernen Tür. Sie, nur sie hat ein Blutbad verhindert. Das Bild dieser Tür mit ihren Einschusslöchern hat sich mir ebenfalls tief eingeprägt. Diese Tür ist ein Sinnbild für die Wunde, die dieser 9. Oktober 2019 gerissen hat. Aber für mich ist diese Tür auch ein Symbol der Stärke und des Zusammenhalts. Das ist auch die Botschaft der jungen Künstlerin Lidia Edel, die die Tür so wunderbar zum Denkmal umgestaltet hat.
Die Synagoge hat jetzt eine neue Tür, eine, die noch stärker, noch wehrhafter ist. Für Sie, lieber Herr Privorozki, für Ihre Gemeindemitglieder ist das sicher das Mindeste, aber es wird Ihnen die Beunruhigung durch wachsenden Antisemitismus nicht nehmen.
Mich erfüllt auch das mit Scham und Zorn: dass es nötig ist, jüdische Gotteshäuser in unserem Land zu schützen. Dass es für jüdische Kinder Alltag ist, schwer bewachte Kindergärten und Schulen zu besuchen. Dass Jüdinnen und Juden immer und zu jeder Zeit damit rechnen müssen, auf der Straße angepöbelt, angespuckt oder gar gewaltsam angegriffen zu werden. Dass jüdische Gräber und Stolpersteine geschändet und entehrt werden. Dass antisemitische Hetze und Hass anschwellen, vor allem im Netz, aber bei weitem nicht nur dort; und dass antisemitische Straftaten zunehmen. Erst zu Beginn dieser Woche erschütterte uns die Nachricht von einer weiteren antisemitischen Gewalttat vor der Synagoge in Hamburg.
Ich bin zutiefst dankbar, dass es wieder jüdisches Leben gibt in unserem Land. Deshalb schmerzt es mich umso mehr, wenn Jüdinnen und Juden sich in Deutschland nicht sicher fühlen. Einige von ihnen haben nach Halle öffentlich gefragt, ob das noch ihr Land ist. Oder ob es Zeit ist, die Koffer vom Dachboden zu holen, wie der Historiker Michael Brenner, Sohn zweier Holocaust-Überlebender, geschrieben hat.
Denn es hat schon so viele antisemitische Gewalttaten gegeben. Manche, die länger zurückliegen, an die die Erinnerung verblasst. Ich denke an den Brandanschlag auf das Jüdische Altersheim in München, bei dem sieben Menschen ums Leben kamen. Der Anschlag wurde nie aufgeklärt. Ich denke an den langjährigen Vorsteher der Jüdischen Gemeinde von Nürnberg, Shlomo Lewin, und seine Lebensgefährtin Frida Poeschke, die ein Rechtsextremer in ihrem Haus in Erlangen erschoss – nur wenige Wochen nach dem Oktoberfestattentat. Aber die Spuren solcher Taten verlieren sich nicht in der Geschichte. Ich denke an die vielen jüdischen Mitmenschen, die – bis in unsere Tage hinein – Opfer von gewaltsamen Angriffen geworden sind.
Die Liste der antisemitischen Übergriffe seit 1945 ist lang. Es ist eine Liste der Schande. Sie muss jeden Demokraten und jede Demokratin umtreiben.
Es reicht nicht, einen Anschlag wie den in Halle zu verurteilen – und dann wieder zur Tagesordnung überzugehen. Wir alle müssen Haltung zeigen. Wir müssen zeigen, dass wir keine Form von Antisemitismus, ob alten oder neuen, linken oder rechten, tolerieren – mehr noch, dass wir ihn aktiv bekämpfen. Und dieser Kampf geht uns alle an.
Denn Antisemitismus ist ein Seismograph für den Zustand unserer Demokratie. Je offener er sich äußert, desto stärker sind unsere Werte, sind Toleranz und die Achtung der Menschenwürde angefochten.
Deshalb muss es uns alarmieren, wenn Kritiker der Corona-Maßnahmen alte antisemitische Verschwörungstheorien neu aufleben lassen und millionenfach verbreiten. Und lassen Sie mich auch das sagen: Es ist niederträchtig, wenn manche dieser Kritiker sich auch noch öffentlich den gelben Stern anheften. Das ist geschichtslos. Das ist unerträglich!
Der Hass des Täters von Halle richtet sich nicht nur gegen Juden. Er richtet sich auch gegen Muslime, gegen Menschen mit einer Migrationsgeschichte, gegen Frauen, gegen das, was er für links hält. Eine Moschee anzugreifen, so war zu lesen, wäre ihm auch recht gewesen. Sein Hass folgt einem nur allzu bekannten Muster: Menschen, die eine andere Hautfarbe haben, die vermeintlich fremd sind, Menschen, die an anderes glauben und andere Überzeugungen haben, in Gruppen zu zwingen, sie herabzuwürdigen, auszugrenzen, sie im Extremfall zu entmenschlichen.
Das ist die Logik von Antisemitismus, von Rassenhass, von Islamfeindlichkeit, von Homophobie – die Logik jeder Form von Menschenfeindlichkeit. Auch Zuwanderer und Flüchtlinge, auch Muslime werden in unserem Land beschimpft, diskriminiert, bedroht, ermordet; ihre Moscheen werden beschmiert und angegriffen. Der Hass einiger geht heute so weit, dass ein Politiker wie Walter Lübcke kaltblütig umgebracht wurde, weil er für Menschlichkeit eintrat. Dieser Hass trifft auch andere Politikerinnen und Politiker, ganz besonders auf kommunaler Ebene. Nichts davon darf uns gleichgültig lassen. Nichts davon dürfen wir hinnehmen.
Heute erinnern wir uns an den Anschlag von Halle. Vor wenigen Wochen sprach ich mit den Angehörigen der Opfer von Hanau, kurz darauf gedachten wir in München der Opfer des Oktoberfestattentats vor vierzig Jahren. München, Halle, Hanau: Es ist eine lange blutige Linie, die diese und viele andere Taten verbindet, eine Linie, die auch über die NSU-Morde und den Mord an Walter Lübcke führt.
Rechtsextremismus reicht tief hinein in unsere Gesellschaft und rechtsextremer Terrorismus weit zurück in unsere Geschichte. Diese Erkenntnis hat sich erst nach den NSU-Morden durchgesetzt, spät, sehr spät. Das muss uns Mahnung und Auftrag zugleich sein.
Im Fall von Halle und auch von Hanau wissen wir, wer die Täter sind. Aber wir müssen viel mehr wissen, wir müssen die Motive ergründen, die Hintergründe solcher Taten aufklären, Netzwerke aufspüren, um Gefahren früher zu erkennen und, wo immer möglich, solche Verbrechen zu verhindern. Zuallererst ist das Aufgabe des Staates und der Sicherheitsorgane. Aber es geht uns alle an: Täter werden nicht zum ersten Mal auffällig, wenn sie eine Bombe werfen, den Schuss abfeuern oder einen Brand legen.
Der Attentäter von Halle hat vermutlich allein gehandelt, aber er ist nicht allein in seinem Hass. Die These vom Einzeltäter, das wissen wir heute, hat in der Vergangenheit allzu oft vom Kern abgelenkt. Täter haben ein Umfeld, in dem sie sich radikalisieren. Sie sind eingebunden in Netzwerke, in virtuelle und reale. Sie haben Unterstützer, virtuelle und reale. Damit meine ich auch die, die mit Worten ein Klima des Hasses erzeugen.
Lassen Sie es mich klar sagen: Wer menschenverachtende Ressentiments verbreitet und die Spaltung unserer Gesellschaft in "die" und "wir" vorantreibt, bereitet den Boden für Gewalt. Hier müssen wir noch viel eindeutiger eine Grenzlinie ziehen. Diese Grenzlinie heißt: Wir dulden keine Menschenfeindlichkeit in unserem Land, nicht in Worten und erst recht nicht in Taten!
München, die NSU-Morde, der Mord an Walter Lübcke, Halle, Hanau: Die Erinnerung ist Verantwortung. Wegschauen ist uns nicht erlaubt!
Unser Grundgesetz stellt die Menschenwürde unter besonderen Schutz. Das ist die Lehre aus unserer Geschichte, und daraus erwächst unsere Verpflichtung in der Gegenwart.
Es ist eine Verpflichtung für den Staat und seine Sicherheitskräfte, jede und jeden zu schützen, egal welche Hautfarbe er hat, wo sie herkommt, was er glaubt. Und wir müssen jüdische Einrichtungen schützen, besser schützen als bisher. Die Bundesregierung und der Zentralrat der Juden haben kürzlich eine Vereinbarung dazu getroffen. Länder und Kommunen unternehmen eigene Anstrengungen.
Unser Grundgesetz ist auch eine Verpflichtung für jeden und jede Einzelne von uns, für alle, die in diesem Land leben und leben wollen. Wir müssen uns einmischen, in der U-Bahn, im Café, auf dem Schulhof, auf der Straße, im Netz. Jede und jeder muss für die Werte unseres demokratischen Rechtsstaates einstehen. Jede und jeder muss aufstehen, wenn die Menschenwürde anderer missachtet wird.
Menschenfeindlichkeit trifft nicht jeden, aber sie betrifft uns alle. Denn sie ist ein Angriff auf die offene Gesellschaft. Sie trifft unsere Demokratie ins Herz. Das dürfen wir nicht zulassen!
Und ich bin sicher, die meisten Menschen in unserem Land wollen das nicht zulassen.
Deshalb lassen Sie uns zusammenstehen, Christen, Juden und Muslime, Gläubige und Atheisten, Ost- und Westdeutsche, neu Zugewanderte und Alteingesessene. Wir stehen zusammen gegen Antisemitismus, gegen Rassenhass, gegen Muslimfeindlichkeit, gegen Menschenfeindlichkeit. Hier in Halle und überall in Deutschland.
Der 9. Oktober vor einem Jahr brachte eine schreckliche Botschaft.
Die Menschen auf den Straßen von Leipzig am 9. Oktober vor dreißig Jahren, das war die gute Botschaft. Sie waren stark, weil sie zusammenstanden. Wir sind stark, wenn wir zusammenstehen. Das ist das Erbe, das sie uns hinterlassen haben. Das ist Auftrag und Verpflichtung zugleich.