Graffiti als emotionale Detonation by Christoph May Lyrics
Universität Bern / 27. April 2015
Graffiti und Männlichkeit II.
"Hallo, ich bin Christoph!
[Photo 1] Ich spreche über den Soziolekt von Graffiti-Sprühern aus Berlin. Mich interessiert sowohl das radikale als auch das literarische Moment ihrer Sprache und ihrer geheimen Schriftzüge.
Hier setzt der Linkshänder RUZD von der Berliner DRM-Crew über sein persönliches Pseudonym, den sogenannten Style, zusätzlich noch seine Unterschrift, sein Tag, auf eine Berliner S-Bahn. Er hat das Wort 'Schriftzug', so könnte man sagen, schlicht und einfach wörtlich genommen.
[2] Bevor ich auf die Texte zu sprechen komme, möchte ich euch eine ungefähre Vorstellung von der Quellenlage vermitteln. Seit etwa 15 Jahren sind Graffiti-Sprüher im Internet zu Gange, wie hier bis 2013 auf Streetfiles.org.
[3] Die Kommunikation lief dort vor allem über Kommentarketten – wie hier zu sehen – oder Gruppenchats. Heute gibt es stattdessen zahllose Tumblr-Blogs, RSS-Feeds und Youtube-Kanäle im Abonnement. Die meisten illegalen Maler nutzen das Web 2.0 weder interaktiv noch kollaborativ.
[4] Neben den Online-Formaten analysiere ich die Sprache und Ästhetik in den Rap-Videos und Action-Dokumentationen der Graffiti-Ganoven wie z.B. Power of Style, [5] Hard Knocks oder [6] Unlike U. Die Berliner Doku Unlike U von 2010 gilt als das Stirb Langsam 5 der Graffiti-Szene; ein nostalgisches Altherren-Statement von Berliner Ex-Sprühern aus den frühen Neunzigern, die heute schon auf die Fünfzig zugehen.
[7] Interviews und ausführliche Berichte über einzelne Aktionen – sogenannte Writer-Stories – finden sich en masse in den Hochglanz-Magazinen der Szene wie z.B. Artistz, [8] Auri Sacra Fames oder [9] Overkill.
Overkill ist ein Begriff aus dem Kalten Krieg und bezeichnet die Fähigkeit, einen Gegner mehr als einmal zu vernichten, also im Wortsinne mehrfach zu übertöten. [10] In der Graffiti-Szene steht Overkill für das unkontrollierte Herausschießen von Farbe aus einer defekten Sprühdose, synonym also zum Herumballern auf dem Schlachtfeld.
[11] Das Magazin Auri Sacra Fames ist nach einem Zitat aus der Aeneis von Vergil benannt, wo es heißt:
“Quid non mortalia pectora cogis, auri sacra fames?“
“Wozu zwingst du nicht die Herzen der Sterblichen, verfluchter Hunger nach Gold?“
[12] In einem Berliner Graffiti-Magazin bezieht sich der 'verfluchte Hunger nach Gold' auf die goldgelben S- und U-Bahnen der Stadt, auf die begehrten rollenden Goldbarren also.
[13] Die literarisch wertvollsten Texte stammen aus Büchern wie den Graffiti Diaries von Pigenius Cave, in denen dieser über die Eroberungszüge seiner unsterblichen Jugend berichtet, [14] Burning Down The House von Norman Behrendt mit liebevollen Portraits von fast 100 Berliner Sprühern oder [15] Das Gedächtnis der Stadt schreiben von Markus Mai und Thomas Wiczak aus dem Jahr 2007. Letzteres versammelt die ambitionierten Schreibversuche von jungen Künstlern, die aus der Graffiti- direkt in die Galerie-Szene oder an die Kunsthochschule gewechselt sind.
[16] Berlin hat sogar einen kleinen Verlag, in dem Graffiti-Sprüher und Landnahme-Aktivisten in kunstvollen Liebhaber-Editionen ihre bisweilen recht geistreichen Gedanken zu Papier bringen.
[17] Internet, Videos, Magazine und Buchpublikationen:
aus dieser Reihe habe ich jeweils ein Textbeispiel ausgewählt.
So lässt sich zum einen gut zeigen, wie die literarische Qualität deutlich mit dem medialen Format zusammenhängt und zum
anderen, weshalb sich die visuellen Medien viel besser eignen,
um Radikalität authentisch produzieren zu können.
Zum Beispiel, in dem man sein Graffiti mit einem Molotow-Cocktail in Brand steckt.
[18] Wir beginnen mit einer Kette von Kommentaren, die im einzelnen banal, aber als Ganzes vorgetragen lyrisch und – wie bei folgendem Auszug – sogar leicht dadaistisch wirken.
Wir sehen eine U-Bahn mit dem Wholecar der Berliner Crew B.A.D. von 2009. Ein 'Wholecar' bezeichnet die besprühte Fläche des gesamten Waggons und B.A.D. steht für Burning Angel Dust: Graffiti wird hier als Asche bezeichnet, als brennender Staub böser, gefallener Engel.
BOOOM
WOW
Schön aggressiv
WOOHAA
Oberhammer
BOOM BANG BANG
Besser jeht nich
Heisses Eisen
Fett
Sehr steil
Die Buchstaben haben Flavour und tanzen Samba, Respekt Jungs
Superteil, just bad
Dit Ding stemmt Gewichte
Überendkingding
ein Brecher vom feinsten, Dicker
BÄÄÄÄM
der Killer!!!!!! fünfzig Ausrufezeichen
Very nice
Brett
da unten weht ein scharfer Ostwind
yeah
ich glaube, das ist real Berlin
fuck me, this is some heavy shit
alter Falter, da brennt einem der Schlüpper weg
this is it, Baby
Killershit
Burner
BOOM
in your Face Bitch
fettes Futter
ne Mörderbombe, sach ich ma
Omega
Kingshit
überkrass
beste Wholecar aller Zeiten
Die explosiven Onomatopoesien, also die fassungslosen Ausrufe und Empfindungswörter – die genau genommen keine Empfindung zum Besten geben, sondern vielmehr ein schockiertes Staunen – wirken wie eine Live-Schaltung in ein Kriegsgebiet. So als würde hier ein laufendes Feuergefecht kommentiert oder eine virtuelle Verfolgungsjagd in einem Ego-Shooter wie Grand Theft Auto oder dergleichen.
[19] Die raumgreifende Sprache von Graffiti-Sprühern bedient sich der radikalisierten Rhetorik eines Söldner- oder Guerilla-Krieges um Land und Fetisch-Objekte.
Ob Raub, Mord, Vergewaltigung oder Vertreibung: männliche Kriegsverbrechen werden hier kulturell transformiert, entschärft und im Verborgenen der Stadt en detail nachgespielt.
Besonders eindrucksvoll zeigt sich das in den pseudobrutalen Rap-Lyrics von D(E)VO. Ich zeige euch etwa eine Minute aus dem Video DAMAGERS, dass er gemeinsam mit den Berliner Graffiti-Gangstern der DRS Crew aufgenommen hat.
Die Sprüher inszenieren sich hier als Zerstörer und Zerstörer-Lyrik folgt meist einem simplen Reimschema: genau wie in Kinderversen sorgen kurze Kreuz- und Paarreime dafür, dass die Botschaft so unmissverständlich daherkommt wie ein Faustschlag.
Achtung, das Video ist laut, seine Stimme äußerst unangenehm und die Aggression nervt gewaltig! Es ist nicht wichtig, dass ihr den Text versteht, achtet einfach auf die Graffiti-Elemente und seine seelenlosen, schwarzen Augen.
- Video: DVO / Damagers -
[20] Ich zitiere: “Knaben werden ausgelacht / das hier ist die
Männerliga / kannst du nicht mit dunklen Gestalten mithalten / dann halte lieber / und renn mal wieder!“
Die aggressive Message und Ästhetik schwarz-vermummter Männerbünde erinnert dieser Tage doch sehr an [21] die Propaganda-Videos des Islamischen Staates.
Mit dem einzigen, aber zivilisatorisch und kulturell entscheidenden Unterschied, dass sich [22] diese jungen Feldherren – hier von der Terror-Live-Berlin Crew mit dem Rapper Akte One als Leitwolf – in symbolischer Kriegsführung und symbolischem Landraub üben.
[23] Seit jeher treten Graffiti-Sprüher im Style-Battle gegeneinander an, Breakdancer batteln sich auf der Tanzfläche, Djs am
Mischpult und Gangster-Rapper bekriegen sich mit aggressiven Kreuzreimen. Hier zu sehen der Rapper Kontra K. über den Dächern Berlins in dem Graffiti- und Parkour-Video 'Adrenalin' [24] mit den Sprühern der ÜF-Crew in der Hauptrolle.
Nun aber zu den Texten:
[25] Dieser Gedichtband heißt CALYBA.
Die Autoren Stefan Wartenberg und Joachim Spurloser haben weltweit und 11 Jahre lang Graffiti-Tags gesammelt und damit über 50 Laut-Gedichte in der Tradition von Dada-Lyrik und konkreter Poesie verfasst.
[26] Über ihre Gedichte sagen sie, Zitat:
“Losgelöst von ihren ursprünglichen, oft unklaren Bedeutungen und Zusammenhängen gehen die wilden Namen, Zahlen und Abkürzungen der Graffiti hier Beziehungen ein, die von einer
Sehnsucht nach Unendlichkeit geprägt sind. Ordnung und Zerstreuung – Graffiti erklingen in Calyba als das, was es eigentlich immer schon war: Weltsprache und Gestammel.” Zitat Ende.
Zu Gehör bringe ich euch die gelb markierten Verse aus der Hommage an Kurt Schwitters Ur-Sonate unter dem Titel: NURSO NATE.
[27] Ich würde gern versuchen, es auch nach der Art von Schwitters zu intonieren. Begleitend dazu zeige ich euch ein paar Photos von typischen Berliner Netz-Werken.
HODEN ODIN DEAN DANA
DAN DUTCH NACHO
MACHO MUCHO MUCH
[28] 2MUCH
2MORE HORE HERO7
HEROIN RUINE URIN
URAL RAL PAL PAF PUFF
PAV
[29] UFF TUFF FUF FUZZ FUZY
UZI U1KINGS
ÜF YF YK IK IKS MR.IX
[30] YGS PIGS GIGGS SMIK KRIK
ZRIK DRIK DROL PROLL POLO
POLOK
Graffiti wird hier als, Zitat: “Gesamttext“ verstanden, der sich unaufhörlich fortschreibt und zu dem die Sprüher eine “Affäre“ eingehen.
[31] Das verdichtete Netz aus codierten Signaturen lässt sich
tatsächlich als eine mentale Repräsentationsform geographischer Räume verstehen, in denen sich die Graffiteros geborgen fühlen, wo sie herumtoben und Luftsprünge üben können.
[32] Die innere Landschaft, die Gefühlslandschaft der heranwachsenden Männer bildet sich dort als ein direktes Abbild jener äußeren Landschaften heraus, die sie real erobern und bezeichnen.
[33] Der Berliner Maler BLOOD – englisch für Blut – erklärt in Burning down the house zu einem seiner Lieblingsorte, Zitat:
“Der Ort hat mich geprägt, ich fühle mich mit ihm sehr verbunden.
Er ist ein Teil meiner Identität. Orte sind die Hauptessenz im Writing und werden besonders sensibel wahrgenommen.“ Zitat Ende.
[34] Orte werden hier als Essenz bezeichnet, als Flüssigkeit oder als ein Konzentrat, das man vor allem dann besonders sensibel wahrnimmt, wenn das Adrenalin steigt und das Herz so richtig zu pumpen beginnt.
Diese 'Blut und Boden' - Metapher wurde von den Nationalsozialisten geprägt und ist erst kürzlich wieder beim Islamischen Staat aufgetaucht.
[35] Graffiti-Sprüher hingegen tränken den Ort nicht mit fremdem Blut, sondern mit ihrem eigenen Herzblut, dass in die Suche nach dem Ort und schließlich in ihre Bilder fließt, die sie dort zurücklassen.
[36] HEIST, ebenfalls ein Berliner Maler, sagt dazu, Zitat:
“Dabei versuche ich nicht einfach in diesen Ort einzufallen, sondern überlege mir genau, wie ich in das Erscheinungsbild eingreife. Der Ort nimmt dabei definitiv Einfluss auf die Erscheinung meines Bildes.“ Zitat Ende.
Orte und Graffiti werden hier zu Erscheinungsbildern transzendiert, die gemeinsam eine Art Show-Realität bilden, eine inszenierte Realität mit Show-Charakter.
[37] Für ältere, erwachsene Sprüher wie KRIPOE wiederum stellt, Zitat, “das Besetzen von Orten [bereits] eine Rückkopplung mit der Realität“ dar.
[38] Und für alte Hasen wie HEZHT sind Orte, Zitat, “irgendwann fast wichtiger geworden als das Anbringen von Graffiti am jeweiligen Ort.“
[39] In meiner Forschung über die Landnahme-Strategien von Graffiti-Sprühern vertrete ich die These, dass das Interesse an Graffiti verschwindet, sobald die innere Realität des Sprühers seiner äußeren entspricht, also quasi deckungsgleich ist und für jedwede Projektionen keinen Raum mehr bietet. Als berufsbegleitendes 'Hobby' wird schließlich auch das opponierende Graffiti-Moment endgültig aufgegeben.
[40] Oder weitergegeben an die Söhne: aus freien Radikalen und Kolonisten werden treusorgende Väter und Berufstätige.
[41] Abschließend möchte ich auf die Graffiti zu sprechen kommen. Auf Sprüher üben diese verqueren Zeichengebilde eine enorme Faszination aus, die sie selber kaum in Worte fassen
können, was meiner Meinung nach daran liegt, dass sie dafür noch keine Sprache ausgebildet haben.
[42] Der Soziolekt von Sprühern ist durchdrungen von Kriegsmetaphorik und sexualisiertem Maschinen- und
Technikvokabular. Sie sprechen wie der dauerbekiffte SHEK in Unlike U, von, Zitat: “Energie-Action-Ausdrucksweise“ und sind stolz auf den 'harten Kern' der Szene.
[43] Die Dauerbrenner sind Fame und Anerkennung, Qualität und Quantität. Natürlich ist oft von Sucht die Rede, von Stressfaktoren, Adrenalin, vom Kick, davon, dass der Style ein Eigenleben führt
– darauf komme ich gleich zu sprechen – und wie enorm wichtig es ist, einen klaren Kopf zu behalten, nicht die Kontrolle zu
verlieren und so weiter.
[44] Von Gemütserregungen, Stimmungen, Sensibilität oder gar Sinnlichkeit fehlt nahezu jede Spur.
[45] Stellen Graffiti also den bildgewordenen Versuch dar,
herauszufinden, was genau Gefühle sind? Ein erster Ausdruck davon – wenn auch unlesbar – übertragen auf die Wand oder den Zug? Das Wort Emotion stammt – nebenbei bemerkt – vom lateinischen emovere und bedeutet herausbewegen oder
emporwühlen. Es ist auch im Wort Lokomotive enthalten,
was vielleicht die Fetisch-Faszination für Züge erklärt.
[46] Wichtig ist jedenfalls, dass man es anschauen und mit den Jungs darüber rätseln kann. Denn Graffiti ist gewissermaßen das ungestüme Kryptonym für Gefühl. [47] Es zeigt eine abstrakte
Illustration des chaotischen Inneren sich entfaltender Männlichkeit. [48] Jeder neue Style ist der Versuch, die ersehnten Gefühle unmittelbar während der laufenden Landnahme in eine polymorphe Struktur zu gießen, die der gewonnenen Landschaft entspricht.
[49] Die vortrefflichste Schilderung über das Emporwühlen von unbekannten Gefühlen beim Buchstaben bauen stammt vom Berliner Maler BUS126 und findet sich in dem Buch Das Gedächtnis der Stadt schreiben.
[50] Ich zitiere: “Der geschriebene Buchstabe bringt etwas ans Tageslicht, was im Dunkeln verborgen liegt. Es ist ein Feuer, ein leiser Wind, ein Berg, kreisende Sterne und gleichzeitig nichts davon. Und dennoch führt von der sichtbaren Welt des geschriebenen Buchstaben ein Faden hin zur unsichtbaren, eigenen inneren Welt, die ihn hervorbringt. Sie beeinflussen sich immerwährend. Das Schreiben ist flüchtig und nur im Schreiben und Zeichnen ist der Buchstabe lebendig. Wir zu ihm und er zu uns.“ Zitat Ende.
[51] BUS126 von der Diamanten-Crew – den Diamonds, wie sie sich nennen: auch hier wieder der harte Kern, nein, sogar der härteste aller Kerne – BUS126 nimmt die noch namenlosen Gefühle als Naturgewalten wahr, als Feuer und Wind, sogar als einen Berg und als kreisende Sterne.
[52] Er bedient sich der, Zitat, “sichtbaren Welt“, um die “eigene, innere Welt“, die, wie er sagt, “im Dunkeln verborgen liegt“, zu beschreiben. Von dieser “sichtbaren Welt des geschriebenen
Buchstabens“ führt “ein Faden“ hinab in die unsichtbare Welt,
die diesen Buchstaben hervorgebracht hat.
[53] BUS126 macht sich hier als Theseus auf den Weg in sein
inneres Gefühls-Labyrinth, während er ein Geschenk der Ariadne
– hier rechts im Bild – abrollt, um nicht darin verloren zu gehen: den berühmten roten Faden.
[54] Die wartende Ariadne hier auf Naxos. Sie trägt den roten Faden zu einem Gewand der Liebe gewebt. [55] Der Faden als Frauenkörper in der Performance 'Between here and there' von
Valie Export aus dem Jahr 1976.
Graffiti ist also das Geschenk einer Frau,
des begehrten Objekts par excellence.
[56] Und die Sprüher müssen wieder und wieder hinein in das Labyrinth aus U- und S-Bahn-Strecken, Straßenkreuzungen und
anderen Hidden Places. [57] Viele goldgelbe, stählerne Minotauren
– hier in einem Berliner Yard – wollen erlegt und photographiert werden, bevor man die Geliebte endlich in die Arme schließen kann.
[58] Um jemals wieder herauszufinden aus dem Labyrinth, schlängelt sich ein roter Faden die Wände entlang: Graffiti markieren den sicheren Rückweg zur Liebsten. Die unzähligen Auswege aus dem inneren Gefühls-Chaos junger Männlichkeit haben letztlich alle nur ein Ziel: Liebe und Anerkennung!
Oder wie die Sprüher sagen würden: Fame!
[59] In der römischen Mythologie ist Fama die weibliche Gottheit des Ruhmes und des Gerüchts. [60] Und ähnlich den Graffiti bezeichnet das griechische Pheme ursprünglich eine Nachricht oder eine Botschaft unklaren Ursprungs.
Jedes Graffiti ist also vorerst nur ein Gerücht der begehrten
Weiblichkeit beziehungsweise [61] das ferne, beunruhigende Schnauben ungezähmter, wild gewordener Gefühle, weggesperrt in den labyrinthischen Tiefen männlicher Sehnsucht.
Ich beschließe den Vortrag mit einer Ergänzung zum Mythos um das minoische Labyrinth auf Kreta. Nachdem Minos über Athen gesiegt hatte, legte er der Stadt eine grausame Strafe auf: um den Minotaurus ruhigzustellen, musste Athen fortan alle neun Jahre sieben Jungfrauen und sieben Jünglinge in das Labyrinth entsenden.
[62] Diese Art von tödlichem Trainingscamp für Jugendliche findet sich aktuell in dystopischen Science-Fiction-Serien für Teens wie Maze Runner oder [63] den Hunger Games wieder.
[64] Nach der virilen Auslegung des Islam warten die jungen Frauen bereits im Paradies und der schnellste Weg sie zu erreichen – und das irdische Labyrinth des Lebens zu umgehen – scheint für so manch gekränkten Minos heute bisweilen das Selbstmord-Attentat zu sein.
[65] Auch Graffiti zeugen von nächtlichen Attentaten auf die städtischen Verkehrssysteme. [66] Mir drängt sich deshalb die Frage auf, ob Graffiti nicht eine Art modernes und sozial absolut verträgliches, symbolisches Selbstmord-Attentat darstellt?
Weshalb sonst sprechen die Maler
von 'bomben' und nicht von sprühen?
[67] Wie ich zeigen konnte, illustriert ein Graffiti-Style – der von Sprühern direkt als 'Bombe' bezeichnet wird – die emotionale Detonation auf dem inneren und äußeren Schlachtfeld adoleszenter Männlichkeit.
[68] Mit Klaus Theweleit könnte man sagen, dass hier der Körperpanzer des Selbst nun endlich aufreißt und fortwährend allerorten geheime Explosionen auslöst.
[69] Graffiti-Sprüher sprengen und boxen sich ihren Weg frei und wenn ihr künftig ein paar Tags oder Styles wiedererkennt, dann folgt diesem roten Faden!
Denn er ist die Nabel- und Zündschnur
der gesamten Graffiti-Bewegung!
Vielen Dank!"
Christoph May / Leipzig 2015
Graffiti und Männlichkeit II.
"Hallo, ich bin Christoph!
[Photo 1] Ich spreche über den Soziolekt von Graffiti-Sprühern aus Berlin. Mich interessiert sowohl das radikale als auch das literarische Moment ihrer Sprache und ihrer geheimen Schriftzüge.
Hier setzt der Linkshänder RUZD von der Berliner DRM-Crew über sein persönliches Pseudonym, den sogenannten Style, zusätzlich noch seine Unterschrift, sein Tag, auf eine Berliner S-Bahn. Er hat das Wort 'Schriftzug', so könnte man sagen, schlicht und einfach wörtlich genommen.
[2] Bevor ich auf die Texte zu sprechen komme, möchte ich euch eine ungefähre Vorstellung von der Quellenlage vermitteln. Seit etwa 15 Jahren sind Graffiti-Sprüher im Internet zu Gange, wie hier bis 2013 auf Streetfiles.org.
[3] Die Kommunikation lief dort vor allem über Kommentarketten – wie hier zu sehen – oder Gruppenchats. Heute gibt es stattdessen zahllose Tumblr-Blogs, RSS-Feeds und Youtube-Kanäle im Abonnement. Die meisten illegalen Maler nutzen das Web 2.0 weder interaktiv noch kollaborativ.
[4] Neben den Online-Formaten analysiere ich die Sprache und Ästhetik in den Rap-Videos und Action-Dokumentationen der Graffiti-Ganoven wie z.B. Power of Style, [5] Hard Knocks oder [6] Unlike U. Die Berliner Doku Unlike U von 2010 gilt als das Stirb Langsam 5 der Graffiti-Szene; ein nostalgisches Altherren-Statement von Berliner Ex-Sprühern aus den frühen Neunzigern, die heute schon auf die Fünfzig zugehen.
[7] Interviews und ausführliche Berichte über einzelne Aktionen – sogenannte Writer-Stories – finden sich en masse in den Hochglanz-Magazinen der Szene wie z.B. Artistz, [8] Auri Sacra Fames oder [9] Overkill.
Overkill ist ein Begriff aus dem Kalten Krieg und bezeichnet die Fähigkeit, einen Gegner mehr als einmal zu vernichten, also im Wortsinne mehrfach zu übertöten. [10] In der Graffiti-Szene steht Overkill für das unkontrollierte Herausschießen von Farbe aus einer defekten Sprühdose, synonym also zum Herumballern auf dem Schlachtfeld.
[11] Das Magazin Auri Sacra Fames ist nach einem Zitat aus der Aeneis von Vergil benannt, wo es heißt:
“Quid non mortalia pectora cogis, auri sacra fames?“
“Wozu zwingst du nicht die Herzen der Sterblichen, verfluchter Hunger nach Gold?“
[12] In einem Berliner Graffiti-Magazin bezieht sich der 'verfluchte Hunger nach Gold' auf die goldgelben S- und U-Bahnen der Stadt, auf die begehrten rollenden Goldbarren also.
[13] Die literarisch wertvollsten Texte stammen aus Büchern wie den Graffiti Diaries von Pigenius Cave, in denen dieser über die Eroberungszüge seiner unsterblichen Jugend berichtet, [14] Burning Down The House von Norman Behrendt mit liebevollen Portraits von fast 100 Berliner Sprühern oder [15] Das Gedächtnis der Stadt schreiben von Markus Mai und Thomas Wiczak aus dem Jahr 2007. Letzteres versammelt die ambitionierten Schreibversuche von jungen Künstlern, die aus der Graffiti- direkt in die Galerie-Szene oder an die Kunsthochschule gewechselt sind.
[16] Berlin hat sogar einen kleinen Verlag, in dem Graffiti-Sprüher und Landnahme-Aktivisten in kunstvollen Liebhaber-Editionen ihre bisweilen recht geistreichen Gedanken zu Papier bringen.
[17] Internet, Videos, Magazine und Buchpublikationen:
aus dieser Reihe habe ich jeweils ein Textbeispiel ausgewählt.
So lässt sich zum einen gut zeigen, wie die literarische Qualität deutlich mit dem medialen Format zusammenhängt und zum
anderen, weshalb sich die visuellen Medien viel besser eignen,
um Radikalität authentisch produzieren zu können.
Zum Beispiel, in dem man sein Graffiti mit einem Molotow-Cocktail in Brand steckt.
[18] Wir beginnen mit einer Kette von Kommentaren, die im einzelnen banal, aber als Ganzes vorgetragen lyrisch und – wie bei folgendem Auszug – sogar leicht dadaistisch wirken.
Wir sehen eine U-Bahn mit dem Wholecar der Berliner Crew B.A.D. von 2009. Ein 'Wholecar' bezeichnet die besprühte Fläche des gesamten Waggons und B.A.D. steht für Burning Angel Dust: Graffiti wird hier als Asche bezeichnet, als brennender Staub böser, gefallener Engel.
BOOOM
WOW
Schön aggressiv
WOOHAA
Oberhammer
BOOM BANG BANG
Besser jeht nich
Heisses Eisen
Fett
Sehr steil
Die Buchstaben haben Flavour und tanzen Samba, Respekt Jungs
Superteil, just bad
Dit Ding stemmt Gewichte
Überendkingding
ein Brecher vom feinsten, Dicker
BÄÄÄÄM
der Killer!!!!!! fünfzig Ausrufezeichen
Very nice
Brett
da unten weht ein scharfer Ostwind
yeah
ich glaube, das ist real Berlin
fuck me, this is some heavy shit
alter Falter, da brennt einem der Schlüpper weg
this is it, Baby
Killershit
Burner
BOOM
in your Face Bitch
fettes Futter
ne Mörderbombe, sach ich ma
Omega
Kingshit
überkrass
beste Wholecar aller Zeiten
Die explosiven Onomatopoesien, also die fassungslosen Ausrufe und Empfindungswörter – die genau genommen keine Empfindung zum Besten geben, sondern vielmehr ein schockiertes Staunen – wirken wie eine Live-Schaltung in ein Kriegsgebiet. So als würde hier ein laufendes Feuergefecht kommentiert oder eine virtuelle Verfolgungsjagd in einem Ego-Shooter wie Grand Theft Auto oder dergleichen.
[19] Die raumgreifende Sprache von Graffiti-Sprühern bedient sich der radikalisierten Rhetorik eines Söldner- oder Guerilla-Krieges um Land und Fetisch-Objekte.
Ob Raub, Mord, Vergewaltigung oder Vertreibung: männliche Kriegsverbrechen werden hier kulturell transformiert, entschärft und im Verborgenen der Stadt en detail nachgespielt.
Besonders eindrucksvoll zeigt sich das in den pseudobrutalen Rap-Lyrics von D(E)VO. Ich zeige euch etwa eine Minute aus dem Video DAMAGERS, dass er gemeinsam mit den Berliner Graffiti-Gangstern der DRS Crew aufgenommen hat.
Die Sprüher inszenieren sich hier als Zerstörer und Zerstörer-Lyrik folgt meist einem simplen Reimschema: genau wie in Kinderversen sorgen kurze Kreuz- und Paarreime dafür, dass die Botschaft so unmissverständlich daherkommt wie ein Faustschlag.
Achtung, das Video ist laut, seine Stimme äußerst unangenehm und die Aggression nervt gewaltig! Es ist nicht wichtig, dass ihr den Text versteht, achtet einfach auf die Graffiti-Elemente und seine seelenlosen, schwarzen Augen.
- Video: DVO / Damagers -
[20] Ich zitiere: “Knaben werden ausgelacht / das hier ist die
Männerliga / kannst du nicht mit dunklen Gestalten mithalten / dann halte lieber / und renn mal wieder!“
Die aggressive Message und Ästhetik schwarz-vermummter Männerbünde erinnert dieser Tage doch sehr an [21] die Propaganda-Videos des Islamischen Staates.
Mit dem einzigen, aber zivilisatorisch und kulturell entscheidenden Unterschied, dass sich [22] diese jungen Feldherren – hier von der Terror-Live-Berlin Crew mit dem Rapper Akte One als Leitwolf – in symbolischer Kriegsführung und symbolischem Landraub üben.
[23] Seit jeher treten Graffiti-Sprüher im Style-Battle gegeneinander an, Breakdancer batteln sich auf der Tanzfläche, Djs am
Mischpult und Gangster-Rapper bekriegen sich mit aggressiven Kreuzreimen. Hier zu sehen der Rapper Kontra K. über den Dächern Berlins in dem Graffiti- und Parkour-Video 'Adrenalin' [24] mit den Sprühern der ÜF-Crew in der Hauptrolle.
Nun aber zu den Texten:
[25] Dieser Gedichtband heißt CALYBA.
Die Autoren Stefan Wartenberg und Joachim Spurloser haben weltweit und 11 Jahre lang Graffiti-Tags gesammelt und damit über 50 Laut-Gedichte in der Tradition von Dada-Lyrik und konkreter Poesie verfasst.
[26] Über ihre Gedichte sagen sie, Zitat:
“Losgelöst von ihren ursprünglichen, oft unklaren Bedeutungen und Zusammenhängen gehen die wilden Namen, Zahlen und Abkürzungen der Graffiti hier Beziehungen ein, die von einer
Sehnsucht nach Unendlichkeit geprägt sind. Ordnung und Zerstreuung – Graffiti erklingen in Calyba als das, was es eigentlich immer schon war: Weltsprache und Gestammel.” Zitat Ende.
Zu Gehör bringe ich euch die gelb markierten Verse aus der Hommage an Kurt Schwitters Ur-Sonate unter dem Titel: NURSO NATE.
[27] Ich würde gern versuchen, es auch nach der Art von Schwitters zu intonieren. Begleitend dazu zeige ich euch ein paar Photos von typischen Berliner Netz-Werken.
HODEN ODIN DEAN DANA
DAN DUTCH NACHO
MACHO MUCHO MUCH
[28] 2MUCH
2MORE HORE HERO7
HEROIN RUINE URIN
URAL RAL PAL PAF PUFF
PAV
[29] UFF TUFF FUF FUZZ FUZY
UZI U1KINGS
ÜF YF YK IK IKS MR.IX
[30] YGS PIGS GIGGS SMIK KRIK
ZRIK DRIK DROL PROLL POLO
POLOK
Graffiti wird hier als, Zitat: “Gesamttext“ verstanden, der sich unaufhörlich fortschreibt und zu dem die Sprüher eine “Affäre“ eingehen.
[31] Das verdichtete Netz aus codierten Signaturen lässt sich
tatsächlich als eine mentale Repräsentationsform geographischer Räume verstehen, in denen sich die Graffiteros geborgen fühlen, wo sie herumtoben und Luftsprünge üben können.
[32] Die innere Landschaft, die Gefühlslandschaft der heranwachsenden Männer bildet sich dort als ein direktes Abbild jener äußeren Landschaften heraus, die sie real erobern und bezeichnen.
[33] Der Berliner Maler BLOOD – englisch für Blut – erklärt in Burning down the house zu einem seiner Lieblingsorte, Zitat:
“Der Ort hat mich geprägt, ich fühle mich mit ihm sehr verbunden.
Er ist ein Teil meiner Identität. Orte sind die Hauptessenz im Writing und werden besonders sensibel wahrgenommen.“ Zitat Ende.
[34] Orte werden hier als Essenz bezeichnet, als Flüssigkeit oder als ein Konzentrat, das man vor allem dann besonders sensibel wahrnimmt, wenn das Adrenalin steigt und das Herz so richtig zu pumpen beginnt.
Diese 'Blut und Boden' - Metapher wurde von den Nationalsozialisten geprägt und ist erst kürzlich wieder beim Islamischen Staat aufgetaucht.
[35] Graffiti-Sprüher hingegen tränken den Ort nicht mit fremdem Blut, sondern mit ihrem eigenen Herzblut, dass in die Suche nach dem Ort und schließlich in ihre Bilder fließt, die sie dort zurücklassen.
[36] HEIST, ebenfalls ein Berliner Maler, sagt dazu, Zitat:
“Dabei versuche ich nicht einfach in diesen Ort einzufallen, sondern überlege mir genau, wie ich in das Erscheinungsbild eingreife. Der Ort nimmt dabei definitiv Einfluss auf die Erscheinung meines Bildes.“ Zitat Ende.
Orte und Graffiti werden hier zu Erscheinungsbildern transzendiert, die gemeinsam eine Art Show-Realität bilden, eine inszenierte Realität mit Show-Charakter.
[37] Für ältere, erwachsene Sprüher wie KRIPOE wiederum stellt, Zitat, “das Besetzen von Orten [bereits] eine Rückkopplung mit der Realität“ dar.
[38] Und für alte Hasen wie HEZHT sind Orte, Zitat, “irgendwann fast wichtiger geworden als das Anbringen von Graffiti am jeweiligen Ort.“
[39] In meiner Forschung über die Landnahme-Strategien von Graffiti-Sprühern vertrete ich die These, dass das Interesse an Graffiti verschwindet, sobald die innere Realität des Sprühers seiner äußeren entspricht, also quasi deckungsgleich ist und für jedwede Projektionen keinen Raum mehr bietet. Als berufsbegleitendes 'Hobby' wird schließlich auch das opponierende Graffiti-Moment endgültig aufgegeben.
[40] Oder weitergegeben an die Söhne: aus freien Radikalen und Kolonisten werden treusorgende Väter und Berufstätige.
[41] Abschließend möchte ich auf die Graffiti zu sprechen kommen. Auf Sprüher üben diese verqueren Zeichengebilde eine enorme Faszination aus, die sie selber kaum in Worte fassen
können, was meiner Meinung nach daran liegt, dass sie dafür noch keine Sprache ausgebildet haben.
[42] Der Soziolekt von Sprühern ist durchdrungen von Kriegsmetaphorik und sexualisiertem Maschinen- und
Technikvokabular. Sie sprechen wie der dauerbekiffte SHEK in Unlike U, von, Zitat: “Energie-Action-Ausdrucksweise“ und sind stolz auf den 'harten Kern' der Szene.
[43] Die Dauerbrenner sind Fame und Anerkennung, Qualität und Quantität. Natürlich ist oft von Sucht die Rede, von Stressfaktoren, Adrenalin, vom Kick, davon, dass der Style ein Eigenleben führt
– darauf komme ich gleich zu sprechen – und wie enorm wichtig es ist, einen klaren Kopf zu behalten, nicht die Kontrolle zu
verlieren und so weiter.
[44] Von Gemütserregungen, Stimmungen, Sensibilität oder gar Sinnlichkeit fehlt nahezu jede Spur.
[45] Stellen Graffiti also den bildgewordenen Versuch dar,
herauszufinden, was genau Gefühle sind? Ein erster Ausdruck davon – wenn auch unlesbar – übertragen auf die Wand oder den Zug? Das Wort Emotion stammt – nebenbei bemerkt – vom lateinischen emovere und bedeutet herausbewegen oder
emporwühlen. Es ist auch im Wort Lokomotive enthalten,
was vielleicht die Fetisch-Faszination für Züge erklärt.
[46] Wichtig ist jedenfalls, dass man es anschauen und mit den Jungs darüber rätseln kann. Denn Graffiti ist gewissermaßen das ungestüme Kryptonym für Gefühl. [47] Es zeigt eine abstrakte
Illustration des chaotischen Inneren sich entfaltender Männlichkeit. [48] Jeder neue Style ist der Versuch, die ersehnten Gefühle unmittelbar während der laufenden Landnahme in eine polymorphe Struktur zu gießen, die der gewonnenen Landschaft entspricht.
[49] Die vortrefflichste Schilderung über das Emporwühlen von unbekannten Gefühlen beim Buchstaben bauen stammt vom Berliner Maler BUS126 und findet sich in dem Buch Das Gedächtnis der Stadt schreiben.
[50] Ich zitiere: “Der geschriebene Buchstabe bringt etwas ans Tageslicht, was im Dunkeln verborgen liegt. Es ist ein Feuer, ein leiser Wind, ein Berg, kreisende Sterne und gleichzeitig nichts davon. Und dennoch führt von der sichtbaren Welt des geschriebenen Buchstaben ein Faden hin zur unsichtbaren, eigenen inneren Welt, die ihn hervorbringt. Sie beeinflussen sich immerwährend. Das Schreiben ist flüchtig und nur im Schreiben und Zeichnen ist der Buchstabe lebendig. Wir zu ihm und er zu uns.“ Zitat Ende.
[51] BUS126 von der Diamanten-Crew – den Diamonds, wie sie sich nennen: auch hier wieder der harte Kern, nein, sogar der härteste aller Kerne – BUS126 nimmt die noch namenlosen Gefühle als Naturgewalten wahr, als Feuer und Wind, sogar als einen Berg und als kreisende Sterne.
[52] Er bedient sich der, Zitat, “sichtbaren Welt“, um die “eigene, innere Welt“, die, wie er sagt, “im Dunkeln verborgen liegt“, zu beschreiben. Von dieser “sichtbaren Welt des geschriebenen
Buchstabens“ führt “ein Faden“ hinab in die unsichtbare Welt,
die diesen Buchstaben hervorgebracht hat.
[53] BUS126 macht sich hier als Theseus auf den Weg in sein
inneres Gefühls-Labyrinth, während er ein Geschenk der Ariadne
– hier rechts im Bild – abrollt, um nicht darin verloren zu gehen: den berühmten roten Faden.
[54] Die wartende Ariadne hier auf Naxos. Sie trägt den roten Faden zu einem Gewand der Liebe gewebt. [55] Der Faden als Frauenkörper in der Performance 'Between here and there' von
Valie Export aus dem Jahr 1976.
Graffiti ist also das Geschenk einer Frau,
des begehrten Objekts par excellence.
[56] Und die Sprüher müssen wieder und wieder hinein in das Labyrinth aus U- und S-Bahn-Strecken, Straßenkreuzungen und
anderen Hidden Places. [57] Viele goldgelbe, stählerne Minotauren
– hier in einem Berliner Yard – wollen erlegt und photographiert werden, bevor man die Geliebte endlich in die Arme schließen kann.
[58] Um jemals wieder herauszufinden aus dem Labyrinth, schlängelt sich ein roter Faden die Wände entlang: Graffiti markieren den sicheren Rückweg zur Liebsten. Die unzähligen Auswege aus dem inneren Gefühls-Chaos junger Männlichkeit haben letztlich alle nur ein Ziel: Liebe und Anerkennung!
Oder wie die Sprüher sagen würden: Fame!
[59] In der römischen Mythologie ist Fama die weibliche Gottheit des Ruhmes und des Gerüchts. [60] Und ähnlich den Graffiti bezeichnet das griechische Pheme ursprünglich eine Nachricht oder eine Botschaft unklaren Ursprungs.
Jedes Graffiti ist also vorerst nur ein Gerücht der begehrten
Weiblichkeit beziehungsweise [61] das ferne, beunruhigende Schnauben ungezähmter, wild gewordener Gefühle, weggesperrt in den labyrinthischen Tiefen männlicher Sehnsucht.
Ich beschließe den Vortrag mit einer Ergänzung zum Mythos um das minoische Labyrinth auf Kreta. Nachdem Minos über Athen gesiegt hatte, legte er der Stadt eine grausame Strafe auf: um den Minotaurus ruhigzustellen, musste Athen fortan alle neun Jahre sieben Jungfrauen und sieben Jünglinge in das Labyrinth entsenden.
[62] Diese Art von tödlichem Trainingscamp für Jugendliche findet sich aktuell in dystopischen Science-Fiction-Serien für Teens wie Maze Runner oder [63] den Hunger Games wieder.
[64] Nach der virilen Auslegung des Islam warten die jungen Frauen bereits im Paradies und der schnellste Weg sie zu erreichen – und das irdische Labyrinth des Lebens zu umgehen – scheint für so manch gekränkten Minos heute bisweilen das Selbstmord-Attentat zu sein.
[65] Auch Graffiti zeugen von nächtlichen Attentaten auf die städtischen Verkehrssysteme. [66] Mir drängt sich deshalb die Frage auf, ob Graffiti nicht eine Art modernes und sozial absolut verträgliches, symbolisches Selbstmord-Attentat darstellt?
Weshalb sonst sprechen die Maler
von 'bomben' und nicht von sprühen?
[67] Wie ich zeigen konnte, illustriert ein Graffiti-Style – der von Sprühern direkt als 'Bombe' bezeichnet wird – die emotionale Detonation auf dem inneren und äußeren Schlachtfeld adoleszenter Männlichkeit.
[68] Mit Klaus Theweleit könnte man sagen, dass hier der Körperpanzer des Selbst nun endlich aufreißt und fortwährend allerorten geheime Explosionen auslöst.
[69] Graffiti-Sprüher sprengen und boxen sich ihren Weg frei und wenn ihr künftig ein paar Tags oder Styles wiedererkennt, dann folgt diesem roten Faden!
Denn er ist die Nabel- und Zündschnur
der gesamten Graffiti-Bewegung!
Vielen Dank!"
Christoph May / Leipzig 2015