Mikado by Botho Strau Lyrics
Zu einem Fabrikanten, dessen Gattin ihm während eines Messebesuchs entführt worden war, kehrte nach
Zahlung eines hohen Lösegelds eine Frau zurück, die er nicht kannte und die ihm nicht entführt worden
war. Als die Beamten sie ihm erleichtert und stolz nach Hause brachten, stutzte er und erklärte: Es ist Ihnen
ein Fehler unterlaufen. Dies ist nicht meine Frau.
5 Die ihm Zu-, jedoch nicht Zurückgeführte stand indessen hübsch und ungezwungen vor ihm, wachsam
und eben ganz neu. Außerdem schien sie schlagfertig und geistesgegenwärtig zu sein. Den Beamten, die
betreten unter sich blickten, gab sie zu verstehen, ihr Mann habe unter den Strapazen der vergangenen
Wochen allzu sehr gelitten, er sei von der Ungewissheit über das Schicksal seiner Frau noch immer so
durchdrungen und besetzt, dass er sie nicht auf Anhieb wieder erkenne. Solch eine Verstörung sei bei
10 Opfern einer Entführung und ihren Angehörigen nichts Ungewöhnliches und werde sich bald wieder geben.
Darauf nickten die Beamten verständnisvoll, und auch der tatsächlich verwirrte Mann nickte ein wenig mit.
Aus seinen dunkelsten Stunden war also unversehens diese völlig Fremde, diese helle und muntere
Person aufgetaucht, die den übernächtigten Fabrikanten von seinen schlimmsten Befürchtungen zwar
ablenkte, diese aber keinesfalls zerstreute. Schon am nächsten Morgen – sie schlief im Gästezimmer – fand
15 er sie in der Garage vor einem am Drahtseil aufgehängten Fahrrad, dem kaum benutzten Fahrrad ihrer
Vorgängerin. Sie hatte die Reifen abmontiert, die Schläuche geflickt, die Felgen geputzt und die Pedale
geölt. Eine Fahrradflickerin!, dachte der Mann, der ihr eine Weile bei den Verrichtungen zusah. Eine
gelehrte Frau habe ich verloren und dafür eine Fahrradflickerin bekommen!
Aber dann spekulierte er für den Bruchteil einer Sekunde, was die Zukunft wohl für sie beide
20 bereithalte und ob er je mit ihr auf große Tour gehen werde. Neben den flüchtigen erbaulichen Momenten
bewegten ihn aber Zweifel, ob die Anwesenheit dieser einfühlsamen Unbekannten nicht ein tückischer
Hinterhalt sein könnte. Ob die Entführer nicht aus reinem Zynismus und nur um die Liebe zu seiner
geraubten Frau, der gelehrten, zu verhöhnen, ihm diese naive, bedenkenlos patente Heimwerkerin geschickt
hätten. Als zusätzliche Marter, aber auch zur Vorbereitung neuer Erpressungen.
25 Ganz verstehe ich es immer noch nicht, sagte er auf einmal mit entwaffnender Unbeholfenheit.
Sie lächelte hinter flimmernden Speichen und sagte: Genau wie seinerzeit in Madrid. Du erinnerst
dich? Ich hatte doch immer dies lähmende Vorausgefühl. In Madrid? fragte der Mann, schon mit einem
Anklang von gewöhnlicher Ehegattennachfrage.
Ja, als wir mit dem ganzen Club, unseren besten Freunden auf der Plaza Mayor –
30 Natürlich. Ich erinnere mich.
Meine Handtasche war gerade noch da. Und hätte mich nicht dies lähmende Vorausgefühl ergriffen,
dass sie mir im nächsten Augenblick gestohlen würde, dann hätte ich besser aufgepasst. Schon war sie
weg!
Und das am Morgen deines dreißigsten Geburtstags! Ausgerechnet. Man lädt die besten Freunde ein,
35 und irgendein Dieb ist immer darunter.
Aufhören!, rief der Mann ungehalten. Schluss mit dem Falschspiel! Du kannst das nicht wissen. Nicht
du! Na, so war’s aber. War’s nicht so? So war’s doch aber.
Am Nachmittag war er mit einem guten Freund verabredet. Er traf ihn in der Hoffnung, einen Zeugen
dafür zu gewinnen, dass man ihm die falsche Frau nach Hause gebracht hatte. Es stellte sich jedoch heraus,
40 dass dieser echauffierte Mensch auf einmal über alles anders dachte, als er bisher gedacht hatte – über
Politik, Geld, seine Kinder und seine Vergangenheit. Mit einem Schlag hatte sein Geist die Farbe, den
Geschmack, die Richtung und sogar die Geschwindigkeit gewechselt. Da dachte der Mann der Entführten:
Es muss doch wohl an mir liegen. Die Menschen wechseln offenbar ihr Inneres genauso schnell wie ihr
Äußeres. Sie stülpen sich um und bleiben doch dieselben! Mir scheint, ich habe da eine bestimmte
45 Entwicklung nicht ganz mitbekommen. Also wäre die junge Fahrradflickerin am Ende doch niemand
anderes als meine umgestülpte Frau, ja, sie ist wohl die meine, wie sie’s immer war. Ich habe weit mehr als
mein Vermögen für sie geopfert. Da sitzt sie nun auf meinem Bett, hübsch und rund: mein Schuldenberg.
Es bleibt mir keine andere Wahl, ich muss nehmen, was sich bietet, ich könnte nie ein zweites Lösegeld
bezahlen.
Da trat aus seinem Inneren ein Bild hervor, und er sah die Entführte in ihrem Kellerloch, in ihrer Haft.
Ein Stuhl, ein Schlafsack und ein Campingklo. Und gänzlich ohne Bücher. So sah er die Gelehrte, und so
verharrte sie in der Gefangenschaft. Eines Tages würde sich alles klären. Oder aber es würde sich niemals
klären. Zu beidem war er bereit: zu des Rätsels Lösung wie auch das Rätsel zu leben. Nur eine
Entscheidung zwischen dem einen und dem anderen konnte er sich nicht abringen. Am Abend lud er die
55 Geschickte zu einem Mikadospiel mit kostbaren, uralten japanischen Stäben, die er seit Jahren einmal am
Tag auswarf und zusammen mit seiner Frau auflas. Nur um füreinander die Fingerspitzen ein wenig zu
sensibilisieren – so hatte es stets geheißen, wenn seine Frau ihn zum Spiel bat und sich mit dem schiefen
Lächeln der Gelehrten eine dezente Anzüglichkeit erlaubte. Dieselbe Bemerkung kam nun von der
Geschickten, und sie lächelte dazu vollkommen ungezwungen.
60 Die Stäbchen aus lackiertem Zedernholz lagen auseinandergefallen auf dem hellen Birnbaumtisch. Da
rieb sich der Mann die Hände und sagte in einem veränderten, aufgeräumten Ton: Nur zu, du kleines
Rätsel. Nun zeig, was du kannst! Dazu gab er ihr einen burschikosen Klaps auf die Schulter. Sie entgegnete
mit einem unterdrückten Fluch, da sie den Arm gerade zum Spiel ausgestreckt hatte. Ihre ruhige Hand löste
nun etliche Stäbe aus labilster Lage, ohne andere zu bewegen. Seine unruhige hingegen war nicht einmal
65 fähig, freiliegende Spitzen zu drücken, ohne dass sich im Stapel etwas rührte.
Schließlich lüpfte die ruhige Hand den ranghöchsten Stab ohne die geringste Einwirkung auf die
kreuzenden und überliegenden. Sie nahm ihn in beide Hände und zerbrach den Mikado in stillem
Unfrieden. Das Spiel mit den wertvollen Stäben war für immer zerstört. Die unruhige Hand ergriff zitternd
einen der untergeordneten Stäbe und hielt ihn wie einen Spieß umklammert. Der Mann betrachtete die
70 nadelfeine Spitze. Er hatte kein anderes Empfinden mehr, als diese Spitze durch die linke Wange der Frau
zu stoßen, durch ihre Zunge zu bohren und aus der rechten Wange wieder hinaus. Gestoßen und gestochen.
Nicht jetzt. Aber eines Morgens, ja. Eines Morgens bestimmt. Eines Morgens wird es zu einigen sich
überstürzenden Ereignissen kommen … Man wird sich im Nachhinein fragen, wie es überhaupt so lange
hat dauern können, dass nichts geschah.
Zahlung eines hohen Lösegelds eine Frau zurück, die er nicht kannte und die ihm nicht entführt worden
war. Als die Beamten sie ihm erleichtert und stolz nach Hause brachten, stutzte er und erklärte: Es ist Ihnen
ein Fehler unterlaufen. Dies ist nicht meine Frau.
5 Die ihm Zu-, jedoch nicht Zurückgeführte stand indessen hübsch und ungezwungen vor ihm, wachsam
und eben ganz neu. Außerdem schien sie schlagfertig und geistesgegenwärtig zu sein. Den Beamten, die
betreten unter sich blickten, gab sie zu verstehen, ihr Mann habe unter den Strapazen der vergangenen
Wochen allzu sehr gelitten, er sei von der Ungewissheit über das Schicksal seiner Frau noch immer so
durchdrungen und besetzt, dass er sie nicht auf Anhieb wieder erkenne. Solch eine Verstörung sei bei
10 Opfern einer Entführung und ihren Angehörigen nichts Ungewöhnliches und werde sich bald wieder geben.
Darauf nickten die Beamten verständnisvoll, und auch der tatsächlich verwirrte Mann nickte ein wenig mit.
Aus seinen dunkelsten Stunden war also unversehens diese völlig Fremde, diese helle und muntere
Person aufgetaucht, die den übernächtigten Fabrikanten von seinen schlimmsten Befürchtungen zwar
ablenkte, diese aber keinesfalls zerstreute. Schon am nächsten Morgen – sie schlief im Gästezimmer – fand
15 er sie in der Garage vor einem am Drahtseil aufgehängten Fahrrad, dem kaum benutzten Fahrrad ihrer
Vorgängerin. Sie hatte die Reifen abmontiert, die Schläuche geflickt, die Felgen geputzt und die Pedale
geölt. Eine Fahrradflickerin!, dachte der Mann, der ihr eine Weile bei den Verrichtungen zusah. Eine
gelehrte Frau habe ich verloren und dafür eine Fahrradflickerin bekommen!
Aber dann spekulierte er für den Bruchteil einer Sekunde, was die Zukunft wohl für sie beide
20 bereithalte und ob er je mit ihr auf große Tour gehen werde. Neben den flüchtigen erbaulichen Momenten
bewegten ihn aber Zweifel, ob die Anwesenheit dieser einfühlsamen Unbekannten nicht ein tückischer
Hinterhalt sein könnte. Ob die Entführer nicht aus reinem Zynismus und nur um die Liebe zu seiner
geraubten Frau, der gelehrten, zu verhöhnen, ihm diese naive, bedenkenlos patente Heimwerkerin geschickt
hätten. Als zusätzliche Marter, aber auch zur Vorbereitung neuer Erpressungen.
25 Ganz verstehe ich es immer noch nicht, sagte er auf einmal mit entwaffnender Unbeholfenheit.
Sie lächelte hinter flimmernden Speichen und sagte: Genau wie seinerzeit in Madrid. Du erinnerst
dich? Ich hatte doch immer dies lähmende Vorausgefühl. In Madrid? fragte der Mann, schon mit einem
Anklang von gewöhnlicher Ehegattennachfrage.
Ja, als wir mit dem ganzen Club, unseren besten Freunden auf der Plaza Mayor –
30 Natürlich. Ich erinnere mich.
Meine Handtasche war gerade noch da. Und hätte mich nicht dies lähmende Vorausgefühl ergriffen,
dass sie mir im nächsten Augenblick gestohlen würde, dann hätte ich besser aufgepasst. Schon war sie
weg!
Und das am Morgen deines dreißigsten Geburtstags! Ausgerechnet. Man lädt die besten Freunde ein,
35 und irgendein Dieb ist immer darunter.
Aufhören!, rief der Mann ungehalten. Schluss mit dem Falschspiel! Du kannst das nicht wissen. Nicht
du! Na, so war’s aber. War’s nicht so? So war’s doch aber.
Am Nachmittag war er mit einem guten Freund verabredet. Er traf ihn in der Hoffnung, einen Zeugen
dafür zu gewinnen, dass man ihm die falsche Frau nach Hause gebracht hatte. Es stellte sich jedoch heraus,
40 dass dieser echauffierte Mensch auf einmal über alles anders dachte, als er bisher gedacht hatte – über
Politik, Geld, seine Kinder und seine Vergangenheit. Mit einem Schlag hatte sein Geist die Farbe, den
Geschmack, die Richtung und sogar die Geschwindigkeit gewechselt. Da dachte der Mann der Entführten:
Es muss doch wohl an mir liegen. Die Menschen wechseln offenbar ihr Inneres genauso schnell wie ihr
Äußeres. Sie stülpen sich um und bleiben doch dieselben! Mir scheint, ich habe da eine bestimmte
45 Entwicklung nicht ganz mitbekommen. Also wäre die junge Fahrradflickerin am Ende doch niemand
anderes als meine umgestülpte Frau, ja, sie ist wohl die meine, wie sie’s immer war. Ich habe weit mehr als
mein Vermögen für sie geopfert. Da sitzt sie nun auf meinem Bett, hübsch und rund: mein Schuldenberg.
Es bleibt mir keine andere Wahl, ich muss nehmen, was sich bietet, ich könnte nie ein zweites Lösegeld
bezahlen.
Da trat aus seinem Inneren ein Bild hervor, und er sah die Entführte in ihrem Kellerloch, in ihrer Haft.
Ein Stuhl, ein Schlafsack und ein Campingklo. Und gänzlich ohne Bücher. So sah er die Gelehrte, und so
verharrte sie in der Gefangenschaft. Eines Tages würde sich alles klären. Oder aber es würde sich niemals
klären. Zu beidem war er bereit: zu des Rätsels Lösung wie auch das Rätsel zu leben. Nur eine
Entscheidung zwischen dem einen und dem anderen konnte er sich nicht abringen. Am Abend lud er die
55 Geschickte zu einem Mikadospiel mit kostbaren, uralten japanischen Stäben, die er seit Jahren einmal am
Tag auswarf und zusammen mit seiner Frau auflas. Nur um füreinander die Fingerspitzen ein wenig zu
sensibilisieren – so hatte es stets geheißen, wenn seine Frau ihn zum Spiel bat und sich mit dem schiefen
Lächeln der Gelehrten eine dezente Anzüglichkeit erlaubte. Dieselbe Bemerkung kam nun von der
Geschickten, und sie lächelte dazu vollkommen ungezwungen.
60 Die Stäbchen aus lackiertem Zedernholz lagen auseinandergefallen auf dem hellen Birnbaumtisch. Da
rieb sich der Mann die Hände und sagte in einem veränderten, aufgeräumten Ton: Nur zu, du kleines
Rätsel. Nun zeig, was du kannst! Dazu gab er ihr einen burschikosen Klaps auf die Schulter. Sie entgegnete
mit einem unterdrückten Fluch, da sie den Arm gerade zum Spiel ausgestreckt hatte. Ihre ruhige Hand löste
nun etliche Stäbe aus labilster Lage, ohne andere zu bewegen. Seine unruhige hingegen war nicht einmal
65 fähig, freiliegende Spitzen zu drücken, ohne dass sich im Stapel etwas rührte.
Schließlich lüpfte die ruhige Hand den ranghöchsten Stab ohne die geringste Einwirkung auf die
kreuzenden und überliegenden. Sie nahm ihn in beide Hände und zerbrach den Mikado in stillem
Unfrieden. Das Spiel mit den wertvollen Stäben war für immer zerstört. Die unruhige Hand ergriff zitternd
einen der untergeordneten Stäbe und hielt ihn wie einen Spieß umklammert. Der Mann betrachtete die
70 nadelfeine Spitze. Er hatte kein anderes Empfinden mehr, als diese Spitze durch die linke Wange der Frau
zu stoßen, durch ihre Zunge zu bohren und aus der rechten Wange wieder hinaus. Gestoßen und gestochen.
Nicht jetzt. Aber eines Morgens, ja. Eines Morgens bestimmt. Eines Morgens wird es zu einigen sich
überstürzenden Ereignissen kommen … Man wird sich im Nachhinein fragen, wie es überhaupt so lange
hat dauern können, dass nichts geschah.